„Der will das nicht zeigen, ob er jetzt ganz weiblich oder ganz männlich ist“

GenderONline – Geschlechterbilder und Social Media zum Thema machen: Online-Forschungswerkstätten mit 10- bis 16-Jährigen

von Valerie Jochim und Christa Gebel
Kapitel 
1

Geschlechterbilder und Social Media zum Thema machen: Einleitung und Erkenntnisinteresse

Aufwachsen findet heute selten ohne Soziale Medien statt. Sei es, um sich dort lediglich hin und wieder durchzuklicken, sei es, um länger darauf zu verweilen und sich Bilder und Beiträge anzusehen, sei es, um selbst aktiv Inhalte einzustellen. Die meisten Kinder und Jugendlichen haben heute zumindest Zugriff auf verschiedene digitale Endgeräte, häufig aber auch ein eigenes Smartphone und/oder ein eigenes Tablet. Die jährlich erscheinenden Untersuchungen KIM-Studie und JIM-Studie enthalten unter anderem Zahlen zur Medienausstattung und zum Medienbesitz von 6- bis 13-Jährigen beziehungsweise von 12- bis 19-Jährigen. Die Jugendlichen unter den Befragten besitzen in der Regel eigene Geräte, wobei das Smartphone am häufigsten genannt wird (vgl. Feierabend et al. 2021a, S. 6). Auch bei den Kindern sind eigene Mobiltelefone am weitesten verbreitet, allerdings besitzen sie „selbst noch ein vergleichsweise überschaubares Spektrum an Geräten“ (Feierabend et al. 2021b, S. 11).[1] Mit Blick auf die Nutzung von Social- Media-Angeboten fasst Franziska Koschei zusammen, dass insbesondere YouTube, Instagram und TikTok für die Kinder und Jugendlichen im Alter von 9 bis 15 Jahren relevant sind, wobei etwa TikTok eher von den Jüngeren präferiert wird, während Instagram bei den Älteren beliebter ist. Die verschiedenen Plattformen werden von den jungen Nutzer*innen teilweise täglich verwendet (vgl. Koschei 2021, S. 8 ff.).

 

Welchen Einfluss Social-Media-Angebote auf die persönliche Entwicklung, eigene Perspektiven und Haltungen haben und welchen Beitrag sie beim Aufwachsen leisten, ist damit von Interesse (vgl. Brüggen/Wagner 2017). Entsprechend ist auch die Geschlechterinszenierung in Social Media in der Medienpädagogik zum Gegenstand kritischer Reflexion geworden, denn eine zentrale Rolle für die persönliche Entwicklung spielt das Geschlecht – sowohl die individuelle Geschlechtsidentität als auch die Bedeutung, die Geschlecht als gesellschaftlicher Strukturkategorie zugeschrieben wird. Geschlecht ist wohl die Kategorie, die für uns zuallererst relevant wird, zum Beispiel wenn es bereits vor der Geburt darum geht, welches Geschlecht ein Kind eigentlich hat. Und genau diese vermeintliche ,Eigentlichkeit‘ gilt es in den Blick zu nehmen, um nachzuvollziehen, wie und auf welche Weisen Geschlecht in unserer Gesellschaft verhandelt wird, mit welchem Wissen über Geschlecht Menschen aufwachsen und welche Schlüsse sie daraus für ihre eigene Geschlechtsidentität ziehen. Im Kinder- und insbesondere im Jugendalter erfahren derlei Fragen nochmals eine besondere Bedeutung mit Blick auf die eigene Identitätsfindung und körperliche Veränderungen.

 

„GenderONline – Geschlechterbilder und Social Media zum Thema machen“[2] heißt das Projekt, in dem die vorliegende Begleitstudie entstanden ist. Zum Thema gemacht werden soll eben jene Relevanz der Kategorie Geschlecht mit Blick auf die Sozialen Medien, bei denen es häufig darum geht, sich mit Peers zu vernetzen, sich zu informieren, Spaß zu haben oder sich selbst zu präsentieren. Das Projekt mit einer Laufzeit von 1. Januar 2021 bis zum 31. Dezember 2022 wird vom Bayerischen Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales gefördert und hat zum Ziel, mittels medienpädagogischer Arbeit auf der Basis von bayernweiten Modellprojekten Arbeitshilfen für die Jugendsozialarbeit an Schulen zu entwickeln. In den Projekten setzen sich Kinder und Jugendliche zwischen 9 und 15 Jahren mit geschlechtsbezogenen Fragestellungen im Kontext von Social Media auseinander. Ausgangspunkt der inhaltlichen Beschäftigung sind stets die eigenen Erfahrungen mit beispielsweise Snapchat, TikTok, Instagram und YouTube. Zentrales Moment ist also die Reflexion der eigenen Social- Media-Nutzung sowie der Transfer zu gesellschaftlichen Fragestellungen. Darüber hinaus bieten Fortbildungen für Fachkräfte die Gelegenheit, sich zu informieren und die Methoden kennenzulernen. Bei der Durchführung eigener Projekte haben Fachkräfte darüber hinaus die Möglichkeit, sich im Rahmen des Projekts beraten und aktiv begleiten zu lassen.

 

Die Entwicklung und Erprobung dieser medienpädagogisch-praktischen Aktivitäten wird von der vorliegenden explorativen Studie begleitet, die das Ziel verfolgt, aus den gewonnenen Erkenntnissen Hinweise für die medienpädagogisch-praktische Arbeit zu erhalten. Leitende Forschungsfragen sind dabei,

  • anhand welcher Merkmale Kinder und Jugendliche Geschlecht beschreiben,
  • inwiefern sie sich (kritisch) mit Geschlechterdarstellungen auseinandersetzen und
  • welche Aspekte ihnen in ihren Selbstpräsentationen wichtig sind.

 

Ausgehend davon können Antworten darauf gefunden werden, welche Potenziale Social Media jungen Menschen hinsichtlich ihrer persönlichen geschlechtsbezogenen Entwicklung bieten und welche Herausforderungen sich dabei ergeben. Für eine entsprechende theoretische und kontextuelle Grundlegung wurde im Vorfeld in einem Arbeitspapier von Franziska Koschei der Forschungsstand zum Themenfeld erarbeitet. Konkret liefert die Aufbereitung der aktuellen Studienlage Informationen dazu,

  • inwiefern Geschlechterbilder ein relevantes Feld „im Zuge der Entwicklung einer eigenen Geschlechtsidentifizierung und sexuellen Orientierung [für Kinder und Jugendliche]“ (Koschei 2021, S. 4) sind,
  • zu welchen Ergebnissen inhaltsanalytische Studien mit Blick auf geschlechtliche Darstellungen in Social-Media-Angeboten kommen,
  • welche Aspekte sich durch Befragungen von Kinder und Jugendliche herauskristallisieren und
  • welche Handlungsempfehlungen sich aus diesem bestehenden Wissen unter anderem für die empirische Forschung mit Kindern und Jugendlichen zu dem Themenfeld ergeben (vgl. ebd., S. 4 f.).

 

Aufbauend auf dieser Grundlage wurden für die Umsetzung der vorliegenden Studie sogenannte Online-Forschungswerkstätten entwickelt, in denen qualitative Erhebungsmethoden eingesetzt werden, um mit Kindern und Jugendlichen ins Gespräch zu kommen. Der offene Werkstattcharakter unterstützt die Auseinandersetzung der Kinder und Jugendlichen mit dem Thema und schafft Situationen, in denen sie ihre eigenen Perspektiven zum Ausdruck bringen und gemeinsam inhaltliche Fragen diskutieren und reflektieren können.

 

Nach einer Darstellung des theoretischen Fundaments, auf dem die Studie fußt, und einem kurzen Einblick in entwicklungspsychologische Ansätze zu Geschlecht widmet sich ein Kapitel der methodischen Herangehensweise und Konzeption der Forschungswerkstätten. Durch einige Unwägbarkeiten und Unsicherheiten aufgrund der Corona-Pandemie wurde das Setting als Online-Format entwickelt. Methodenkritisch wird dabei eingeordnet, inwiefern verschiedene pandemiebedingte Aspekte Einflüsse auf die Erhebungen hatten. Im Anschluss daran folgt das umfangreiche Kapitel zu den empirischen Erkundungen, in dem die verschiedenen Perspektiven der befragten Kinder und Jugendlichen verdeutlicht werden. Zwei abschließende Kapitel widmen sich einer Zusammenfassung der Ergebnisse wie auch Folgerungen für die medienpädagogisch-praktische Arbeit.

 


[1] Aufbauend auf diesen Zahlen findet sich eine Übersicht zu den Nutzungsweisen von Kindern und Jugendlichen in dem im vorliegenden Projektvorhaben entstandenen Arbeitspapier von Franziska Koschei (vgl. 2021).

[2] Das Projekt ist online unter www.gender.jff.de zu finden.

chevron-up