„Der will das nicht zeigen, ob er jetzt ganz weiblich oder ganz männlich ist“

GenderONline – Geschlechterbilder und Social Media zum Thema machen: Online-Forschungswerkstätten mit 10- bis 16-Jährigen

von Valerie Jochim und Christa Gebel
Kapitel 
5

Geschlecht und Social Media: empirische Erkundungen

Kapitel 
5.1

Geräteverfügbarkeit und Nutzungsspektrum von Online-Angeboten

Alle der Teilnehmenden haben mindestens ein eigenes Smartphone, häufig auch zusätzlich ein eigenes Tablet. Darüber hinaus stehen in einzelnen Familien beispielsweise Tablets oder Computer zur Verfügung, die von allen Familienmitgliedern genutzt werden können. Nicht mit allen Gruppen konnte gleichermaßen vertieft über das jeweilige Nutzungsverhalten von Online-Angeboten gesprochen werden, in allen fünf Forschungswerkstätten fand zu diesem Bereich aber schwerpunktmäßig ein Austausch über die Nutzung von Social-Media-Plattformen statt.

 

In ihren Nutzungsweisen unterscheiden sich die Teilnehmenden teilweise deutlich voneinander. Wo manche sich insbesondere mit Lerninhalten (für die Schule) auseinandersetzen, sind andere insbesondere im Gaming aktiv. Die eigenen Geräte werden vorwiegend für die Kommunikation etwa mit Mitschüler*innen verwendet, beispielsweise um sich zu Hausaufgaben zu besprechen. Auch Fotos werden von vielen der Teilnehmenden gern gemacht und an Freund*innen verschickt. Meret nutzt ihr Smartphone beispielsweise etwa eine Stunde am Tag; für sie steht während der Schulzeit das Lernen im Vordergrund, wofür sie wiederum ihr Tablet nutzt, auf dem sie auch E-Books liest. Auch Tom nutzt sein Smartphone selbst kaum, da er ein – von der Schule gestelltes – iPad besitzt, das er für Lerninhalte verwendet. Darüber hinaus nutzt er vorwiegend seinen PC, wobei dieser in erster Linie dem Gaming dient. Social-Media-Plattformen werden von vielen der Interviewpartner*innen besucht, wobei einige sich vor allem für das Rezipieren der dortigen Inhalte interessieren, während andere auch eigene Accounts besitzen und sich gegebenenfalls mit der eigenen Darstellung auf den Plattformen auseinandersetzen. Die Ausgestaltung des eigenen Profils und die Darstellung der eigenen Person spielen im Rahmen des hier vorgestellten Samples allerdings eine vergleichsweise geringe Rolle, was insbesondere auch mit dem in der Tendenz noch jungen Alter der Teilnehmenden zu tun haben könnte.[14] Über alle Forschungswerkstätten hinweg wird vor allem YouTube als Plattform genannt, die am häufigsten besucht wird, gefolgt von Snapchat – je nach Personen und Gruppe werden dabei unterschiedliche Interessenschwerpunkte benannt.

 

Der Gaming-Bereich steht beispielsweise bei der Gruppe P im Vordergrund. So nutzt Andy (12) YouTube ausschließlich, um Minecraft-Videos anzusehen und gelegentlich Kommentare dazu zu verfassen. Er verfolgt außerdem unter anderen den Account von Rezo, insbesondere dessen Mathe Facts in den YouTube Shorts[15]. YouTube Shorts nutzt auch der Gaming-Fan Robert (11), um von unterschiedlichen Inhalten unterhalten zu werden. Er vergleicht das dortige Prinzip mit TikTok: „Da wischt man dann halt einfach runter und dann kommt halt der nächste Short. Und ich mag es halt, dass du halt nicht so gebunden bist an eine Themengruppe, weil wenn man ja auch ein YouTube-Video drückt, dann sind ja die Empfehlungen meistens ähnlich wie das Video. Und wenn man halt bei den Shorts rumscrollt, ist es halt immer was anderes, mal Minecraft, mal irgendein Shooter, mal eben so eine Story oder auch mal ganz andere Sachen“ (Pos. 75). Er sieht sich beispielsweise gern BastiGHG an – einen deutschen Minecraft-YouTuber – „der halt viele Challenges bringt, wie er halt das Spiel durchgespielt [hat]“ (Pos. 199), auch Paluten verfolgt er. Daneben sieht er sich Hungriger Hugo an, weil dieser Mitschnitte von anderen Streamer*innen bearbeitet und lustige Clips dreht. Grundsätzlich findet er es ansprechend, wenn Inhalte humorvoll aufbereitet werden. Inhaltlich interessieren ihn beispielsweise Rezepte zum Nachkochen oder auch geschichtliche Dokumentationen. Außerdem mag er es, Lifehacks von TikToker*innen auszuprobieren. Etwa einmal im Monat lädt Robert selbst YouTube-Videos von Minecraft-Spielen hoch und hin und wieder verfasst er Kommentare zu anderen Videos. Peter (12) nutzt ebenfalls YouTube, in der Regel auf dem Smartphone. Er findet die technischen Möglichkeiten ansprechend, Videos pausieren und in unterschiedlichen Qualitäten abspielen zu können. Inhaltlich nutzt er die Plattform für Erklärvideos mit Blick auf schulische Inhalte. Außerdem sieht er sich YouTuber*innen an, die das Computerspiel The Legend of Zelda: Breath oft the Wild spielen. Das Spiel, so beschreibt Peter, sei ähnlich wie Minecraft, aber „eher in so einem Art-Style ein bisschen“ (Pos. 213). Okamsen verfolgt er beispielsweise, weil dieser The Legend of Zelda in Form verschiedener Challenges spielt, etwa nur mit einem Bogen oder einem Wischmob ausgestattet. Einen eigenen Account hat Robert nicht. Mit einem Freund betreibt er allerdings einen eigenen Podcast zum Thema Gaming, den er etwa einmal pro Woche auf dem Streaming-Dienst Spotify hochlädt. Tom – mit 14 Jahren der älteste in dieser Runde – nutzt neben YouTube auch die Plattformen Twitter und Discord, auf denen er sich Beiträge und die Antworten dazu durchliest. Auf YouTube lädt er etwa einmal pro Woche ein Video hoch: „Meistens irgendwas, Sachen, die relativ random sind oder auch wenig Sinn ergeben. Einfach irgendwie so aus/ Weil es manchmal ein bisschen lustig ist“ (Pos. 81). Er verfolgt etwa 200 YouTube-Accounts aktiv und greift dabei Rezo als ein Beispiel heraus, dessen Unterhaltungs-und Politikvideos er besonders gern sieht. Außerdem findet er die Videos von Simplicissimus unterhaltsam und lehrreich: „[D]ie machen halt relativ aufwendige Videos und man kann sich da halt gut zu bestimmten Themen informieren“ (Pos. 224).

 

Ähnlich wie in der soeben dargestellten Gruppe P kristallisiert sich auch in Gruppe I ein roter Faden der Nutzungsweisen von Social- Media-Plattformen heraus. Relevant wird an dieser Stelle, dass sich die Beteiligten innerhalb der Gruppen gut kennen und Teil derselben Peergroup sind. So steht in Gruppe I – neben YouTube – insbesondere die Plattform Snapchat im Vordergrund. Julie (13) gefallen dabei das Spotlight und die verschiedenen Linsen (Video- und Fotofilter) sowie die Möglichkeit, mit Freund*innen Gruppen zu bilden. Auch den Bitmoji – ein Avatar, der bei Snapchat ausgewählt werden kann – mag sie: „[H]at man seine eigene Figur und kann halt die Outfits ändern und das gefällt mir halt“ (Pos. 45). Sie macht gern Fotos oder Videos von sich, die sie über Snapchat aber nur an Freund*innen verschickt. Charlotte (12) nutzt ebenfalls am häufigsten Snapchat, um mit Freundinnen zu kommunizieren und die verschiedenen Effekte einzubinden. Für sie steht der Unterhaltungsfaktor im Vordergrund. Fotos von sich selbst macht sie nicht, sondern sie schießt Fotos, die sie dann bearbeitet; beispielsweise Bilder vom Boden, um sie anschließend mit Stickern zu dekorieren und zu versenden: „Ich weiß nicht genau, warum. (lachend) Aber ja, also da kann man halt auch in die Fotos so verschiedene Sticker oder so reintun und dann daraus irgendwelche Bilder machen. Also das ist ziemlich unnötig, aber das macht halt irgendwie Spaß“ (Pos. 71). Auch bei Lovis (13) und Dora (12) steht das Versenden von Inhalten an Freund*innen im Vordergrund. Beide nutzen dafür allerdings Messenger-Dienste wie Signal oder WhatsApp. Auf YouTube sehen sie sich beide (Erklär)Videos zu verschiedenen Inhalten an. Entsprechend ihrem Nutzungsverhalten nennt keine der Teilnehmerinnen dieser Gruppe einen konkreten Lieblingsaccount; alle sind in digitalen Medien vornehmlich mit privater Kommunikation unter Freund*innen befasst oder aber mit der Rezeption von Videos ganz unterschiedlicher Art. Diese sind häufig interessenbezogen, beispielsweise zu Zeichenanleitungen.

 

Bei den drei weiteren Gruppen differenzieren sich Interessen innerhalb der Gruppen teilweise stärker aus, was insbesondere an den etwas formaleren Gruppenkontexten liegen könnte, die sich aus Klassen- oder Freizeitfahrtgefügen ergeben. So nennen in der kleinen Gruppe S beide Teilnehmerinnen YouTube als Plattform, die sie hauptsächlich nutzen, die Interessenschwerpunkte variieren jedoch. Frida (10) sieht sich gern Musik- und Lernvideos an, außerdem interessiert sie sich für einen Kanal, der animierte Geschichten veröffentlicht. Auch Comedy-Videos gefallen ihr, wobei sie sich lieber Inhalte von Jugendlichen ansieht als von Gleichaltrigen. Hier nennt sie Kaan und Julesboringlife als Accounts, denen sie folgt, „weil die wirken auf mich sehr natürlich, […] dass einfach jedem Menschen mal Fehler passieren oder eben jeder Mensch auch schon mal irgendwas Komisches gemacht hat“ (Pos. 247). Daneben sieht sie sich Wissensformate an wie beispielsweise Wissenswert; sie nennt die Entstehung von Planeten und das Mittelalter als Themen, die sie interessieren. Die Videos von Jonas Ems mag sie ebenfalls, weil er sich ernsteren Themen widmet und beispielsweise erläutert, dass Tiere für die Produktion von Musikvideos ausgenutzt werden. Etwa einmal in der Woche ändert sie ihren WhatsApp-Status, selbst postet sie sonst aber nichts. Deutlich wird, dass sie bald selbst Kanäle/ Accounts betreiben möchte. Aktuell darf sie noch keine eigenen Zugänge besitzen – und auch Instagram darf sie noch nicht nutzen –, mit ihrer Mutter steht sie aber bereits im Austausch, dass sie gemeinsam in etwa zwei Jahren einen YouTube-Kanal betreiben werden, auf dem Frida dann Spiele austesten und ihre Morgenroutine zeigen möchte. TikTok darf sie ebenfalls aktuell nicht nutzen. Dies kann sich nach dem momentan besuchten IT-Seminar aber ändern, nachdem sie sich noch einmal besser mit den Risiken der Plattform auskennen wird: „Da darf ich dann auch TikTok haben, aber nur Videos anschauen und ich darf auch nicht irgendwelche Videos hochladen, auch wenn sie nicht mein Gesicht [zeigen]“ (Pos. 584). Meret (12) schaut auf YouTube unter anderem Mavie Noelle, die in ihren Videos immer wieder etwas erklärt und Turnvideos macht. Grundsätzlich schaut sie am liebsten auf der YouTube-Startseite, ob sie dort interessante Themen für sich entdeckt, die beispielsweise auch in der Schule behandelt werden.

 

In der Gruppe E wird zum Großteil am häufigsten YouTube genutzt, aber auch Snapchat und Instagram sind für manche von Relevanz. So interessiert sich etwa Emil (11) vor allem für Minecraft– und Flugzeugvideos, während sich beispielsweise Oskar (13) gern Parkourvideos ansieht. Auch Paul (16) findet Gamingvideos besonders interessant, aber auch allgemein Inhalte zu aktuellen Geschehnissen. Franz (13) nennt ebenfalls Nachrichten – „nicht Politik, aber andere Nachrichten“ (Pos. 150) – und technische Videos als seine Interessensgebiete auf YouTube. Oskar schätzt an der Plattform grundsätzlich die große inhaltliche Auswahl und die Möglichkeit, sich längere Beiträge anzusehen. Marianne (16) nutzt am liebsten Snapchat, wobei sie die Funktion mag, Flammen mit anderen Nutzer*innen zu erhalten. Außerdem nutzt sie die Filter, um „die Bilder schöner zu machen“ (Pos. 144). Auf Instagram postet sie außerdem selten Bilder von sich, Stories etwa einmal pro Woche. Und auch Maria (15) teilt gelegentlich Bilder von sich auf Instagram, mit Freund*innen, von ihren Haustieren oder aber Beiträge von aktuellen Geschehnissen. Ähnlich formuliert Paul, unregelmäßig eigene Aufnahmen auf Instagram zu posten, wenn er beispielsweise Landschaften oder anderes „Schönes“ (Pos. 160) fotografiert hat. Im Gegensatz dazu positionieren sich andere Teilnehmende dieser Runde aber auch gegen eigene Posts auf Social Media. So meint beispielsweise Franz, dass ihn eigenes Posten nicht interessiere und er außerdem nicht auf vielen verschiedenen Plattformen Accounts haben möchte. Max (14) und Oskar finden beide, es sei grundsätzlich „unnötig“ (Max/Pos. 166; Oskar/Pos. 173), selbst etwas zu posten.

 

TikTok ist die Plattform, die in Gruppe F von zwei Teilnehmenden als am häufigsten genutzte Plattform genannt wird. Daneben finden sich aber auch alle anderen aktuell verbreiteten Social-Media-Angebote in den Rückmeldungen wieder. So spielen – neben TikTok – ebenso Snapchat, Instagram und YouTube für Einzelne eine besonders wichtige Rolle. TikTok sticht durch seine vielfältigen Inhalte für manche Teilnehmenden hervor. So mag Marisa (14) daran besonders, dass immer wieder neue Beiträge zur Verfügung stehen, wodurch sie sich inspiriert fühlt: „Zum Beispiel, wenn man sich jetzt etwas sucht, […] wie man selber ein Eis macht, ein Eisrezept […], dann kann man das so eingeben und dann kommen verschiedene Tutorials und so“ (Pos. 114). Auch Regina (12) hebt die vielen verschiedenen Inhalte hervor, die TikTok bereithält. Sie folgt unter anderem dem Account Can der Koch. Adriana (11) wiederum besucht am häufigsten die Plattform Snapchat – die ihrer Ansicht nach allerdings ähnlich aufgebaut ist wie TikTok – und verfolgt die Accounts TutorialsbyKati und Paula Wolf. Luigi (12) nutzt als Einziger in der Runde vor allem YouTube und betreibt dort auch selbst einen Kanal, den er weiter pflegen möchte; er sieht sich unter anderem gern Videos von HerrAnwalt an. Alma (14) wiederum findet Instagram am besten – dort vor allem Stories und Reels –, postet selbst aber nichts. Privatsphäre und Jugendschutz spielen in dieser Gruppe – ähnlich wie in Gruppe S – eine Rolle: Marisa hat eigene Posts auf TikTok eingestellt, weil auch andere Nutzer*innen sie sehen und kommentieren können und Regina postet nur auf Snapchat für Freund*innen Inhalte, wenngleich sie sich sonst vor allem auf TikTok bewegt. Auch Adriana postet ausschließlich privat; TikTok und Instagram darf sie wegen gegebenenfalls problematischer Inhalte nicht nutzen, „weil manchmal halt nicht so gute Sachen drin sind“ (Pos. 126).

 

Es wird deutlich, dass die eigene Geschlechtsidentität der Teilnehmenden teilweise mit Nutzungsweisen und/oder Interessenschwerpunkten auf Social-Media-Plattformen korreliert. Männlich konnotierte Themengebiete, wie etwa Gaming, Technik und Politik, werden häufiger von Teilnehmenden genannt, die sich selbst als ,männlich‘ bezeichnen. Kommunikation, die Anwendung verschiedener Filter/Linsen und allgemein der Bereich der Bildbearbeitung, das Erstellen von Bildern von sich selbst sowie Aspekte rund um Outfits, Kosmetik, die sogenannte Morgenroutine und (,gesunde‘) Rezepte werden häufiger von Teilnehmenden genannt, die sich als ,weiblich‘ bezeichnen. Eher selten gibt es im vorliegenden Sample Beispiele, die aus diesen Tendenzen ausbrechen. So kennt beispielsweise Robert aus Gruppe P, der sich ansonsten – wie auch seine Gesprächspartner – viel im Gaming-Bereich bewegt, detailliert den Werdegang von YouTuberin Julia Beautx und sieht sich beispielsweise gerne Koch- und Shoppingvideos an. Auch Paul aus Gruppe E erzählt, dass er sich hin und wieder Videos von Julia Beautx ansieht, wobei er direkt die Einschränkung vornimmt, ihre Inhalte ausschließlich wegen der Kochvideos anzusehen, „weil ich gucke […] auf YouTube sehr viele Kochvideos“ (Pos. 314). Gegebenenfalls bedarf es anscheinend einer Erklärung, wenn als Mann weiblich konnotierte Inhalte rezipiert werden.[16]

 

 


[14] Mit den altersspezifischen medienbezogenen Fähigkeiten und Vorlieben von Kindern und Jugendlichen setzt sich Daniel Hajok auseinander. Er unterscheidet dabei unter anderem die Gruppen der 10- bis 14-Jährigen sowie der 14- bis 18-Jährigen, wobei für die jüngere der beiden Gruppen eher noch eine rezeptive Mediennutzung im Vordergrund steht, für die ältere wiederum ein partizipatives Medienhandeln in den Fokus rückt (vgl. Hajok 2015, S. 2 ff.).
[15] Kurze Erläuterungen zu einzelnen Social-Media-Plattformen sowie zu dortigen Formaten und Funktionen finden sich in einem Glossar im Anhang.
[16] Eine Analyse des Kochens mit Blick auf Geschlecht hat beispielsweise Stephanie Baum erarbeitet. Sie hält fest, dass die Küche und das Kochen einer geschlechtlichen Wandlung insofern unterliegen, als dass in der Tendenz mehr Männer kochen als früher. Eine hegemoniale Perspektive auf männliches Expertenwissen im Bereich des Kochens ist, laut Baum, insofern nicht mehr unantastbar, als dass sich auch Männer Können nun erst erarbeiten müssen. In diesem Kontext formuliert die Autorin: „Diese Veränderung im Kennerschaftsdiskurs ist nicht nur wissens-, sondern auch sehr technikorientiert. Männer kochen technisch anspruchsvolle Rezepte, verwenden seltene Gewürze, außergewöhnliche Zubereitungstechniken und speziell für sie hergestelltes Küchenequipment“ (Baum 2012, S. 78). Vor diesem Hintergrund bleibt das alltägliche Kochen als weiblich konnotiertes Feld nach wie vor existent.

Kapitel 
5.2

Gender: Begriffsverständnis und Wissensquellen

Fast alle Teilnehmenden assoziieren etwas mit dem Begriff ,Gender‘, wobei es manchen von ihnen schwerfällt, ihre Gedanken dazu weiter auszuformulieren. Manchmal beziehen sie sich auf Sexualkunde, manchmal sprechen sie über ihren Deutschunterricht, weil sie vor allem an geschlechtersensible Sprache denken, zum Teil wird aber auch auf Gespräche in der Familie und im Freund*innenkreis verwiesen. Die inhaltlichen Bezugspunkte sind dabei körperliche Merkmale, die geschlechtliche Identifizierung, die sexuelle Orientierung sowie die Auseinandersetzung mit Geschlechtergerechtigkeit und gendersensibler Sprache. Die einzelnen Gruppen unterscheiden sich stark hinsichtlich der Aspekte, die jeweils angesprochen werden. Insgesamt wird deutlich, dass verschiedene Assoziationen zum Begriff ,Gender‘ bei den Teilnehmenden entstehen, wobei diese unterschiedlich und vor allem unterschiedlich differenziert ausfallen – teilweise werden nur sehr rudimentäre Aussagen getroffen, teilweise werden buchstäblich keine Worte gefunden. Durch eine häufige Benennung des schulischen Kontexts und konkreter Fachbereiche zeigt sich zudem, dass sich mittlerweile ein Wissen etabliert hat, das – wie Inhalte anderer Schulfächer – gleichsam zu einem (neuen) Wissenskanon gehört. Und wenngleich dieser Kanon im Rahmen des vorliegenden Samples nicht klar abgegrenzt werden kann, so lassen sich die Verknüpfungen zu Sexualkunde, zu geschlechtersensibler Sprache sowie auch zu geschlechtlichen Identitäten und (Mobbing aufgrund) sexueller Orientierungen herstellen. Ein Gerechtigkeitsdiskurs mit Blick auf Geschlecht wird also implizit berücksichtigt, wenngleich vielfach die Fähigkeit zum sprachlichen Ausdruck des Gelernten und Gedachten und systematisches Wissen zu fehlen scheinen, um hierzu Konkretisierungen vorzunehmen. Damit wird letztlich auch ein gesamtgesellschaftlicher Diskurs zu ,Gender‘ widergespiegelt, der teilweise ähnlich diffus verläuft und sich beispielsweise bezüglich geschlechtersensibler Sprache häufig ein verkürztes Verständnis der Thematik zeigt.[17]

Die beiden Teilnehmerinnen aus der Gruppe S sprechen beispielsweise über zwei Sexualkunde-Workshops, die sie in der Schule hatten. Frida findet, dass sie sich durch den Unterricht gut damit auskennt, „was die Geschlechter sind“ (Pos. 133). Gruppe I bezieht sich wiederum vornehmlich auf das sogenannte Gendern in der Sprache, aber auch auf die geschlechtliche Identifikation. So meint Lovis, selbst auf „[G] endern“ (Pos. 81) zu achten, weil: „[M]an kriegt das ja auch so mit“ (ebd.). Auch Dora erklärt, dass sie beispielsweise im Fach Deutsch versucht, beim Schreiben „ein bisschen drauf zu achten“ (Pos. 87). Bei Julie wurde vor Kurzem im Fach Deutsch unter anderem zum Thema Cybermobbing gearbeitet und in diesem Zusammenhang auch über „Gender“ geredet, „weil ja da welche gemobbt werden. Und bei uns in der Klasse wurde auch schon jemand deswegen gemobbt, halt wegen dem Gender und so“ (Pos. 89). Auf Nachfrage benennt sie, dass sie mit „Gender“ zum Beispiel meint, wenn die sexuelle Orientierung einer Person von anderen nicht akzeptiert wird.

 

Auf die körperliche Ebene und auf die sexuelle Orientierung von Menschen beziehen sich auch Teilnehmende der Gruppe F. So ist Adriana etwas unsicher, ob sie weiß, was ,Gender‘ bedeutet. Sie erinnert sich aber daran, dass bei ihr in der Grundschule im Heimat- und Sachunterricht das Thema Körper durchgenommen wurde: „Da haben wir halt über Geschlecht geredet. Ja“ (Pos. 165). Weiter präzisieren kann sie die Inhalte nicht mehr. Regina kann sich ebenfalls nicht genau erinnern, glaubt aber, in der Schule – 6. Klasse, Natur und Technik – habe sie sich zuletzt mit diesem Thema beschäftigt: „[D]a haben wir halt generell über Menschen, Körper und sowas geredet, also generell von allen Sachen. Halt auch von Geschlecht und so“ (Pos. 161). Alma weiß zum Thema vor allem etwas von zu Hause, da es in der Schule ein heikles Thema gewesen sei; „da gibt es einige, die was haben so dagegen“ (Pos. 181). Hier bezieht sie sich vor allem auf die Ebene der sexuellen Orientierung, weil sie darüber spricht, dass einige ihrer Klassenkamerad*innen homofeindlich seien und etwas gegen Homosexualität hätten. Sie selbst findet diese Reaktionen „bisschen traurig“ (Pos. 185).

 

Auch in der Gruppe P wird deutlich, dass auf Gespräche im Familienkreis zum Themenfeld Geschlechtergerechtigkeit verwiesen wird. Robert erzählt, dass bei ihm am Esstisch der Familie darüber gesprochen wurde. Er nennt ganz grundlegend die Gleichberechtigung von Frau und Mann und bezieht sich weiterführend auch auf eine geschlechtersensible Schreibweise, wobei er mit dieser durch eine regelmäßige Verwendung durch die Schule vertraut zu sein scheint: „[A]lso Gender, ist halt so, also Gleichberechtigung für Männer und Frauen und dass man also zum Beispiel Schüler dann *innen zum Beispiel macht. […] Also es steht halt manchmal in so Elternbriefen oder Texten *innen daneben, aber ich lese es halt dann einfach mit so“ (Pos. 109). Robert erinnert sich, dass es bei ihm in der Schule vor allem grundsätzlich um das Thema Gleichberechtigung ging und nicht im Speziellen um geschlechtersensible Sprache – „sondern halt allgemein so über das Thema, so was es da jetzt halt so zum Anmerken gibt als Lehrer“ (Pos. 117). Tom wiederum bezieht sich ausschließlich auf eine geschlechtersensible Schreibweise und achtet selbst darauf, wie er Sätze formuliert, ob er beispielsweise den Asterisk verwendet oder aber gerade auch nicht: „Also meistens, wenn ich irgendwie in Deutsch oder so was schreibe, dann schreibe ich halt nicht irgendwie mit einem Sternchen, sondern eher, dass ich schreibe, Schüler und Schülerinnen, weil es dann besser auch zu lesen ist so“ (Pos. 113). Peter hatte „das Thema eigentlich nur in der Schule“ (Pos. 115) und führt ebenfalls aus, sich über geschlechtersensible Sprache Gedanken zu machen, wobei auch er die Doppelnennung dem Asterisk vorzieht: „Also ich schreibe auch halt Schüler und Schülerinnen oder halt so was, weil das klingt so wie in so einem fachmännischen Brief, wenn ich jetzt schreibe Schüler*innen. Das gefällt mir nicht so sehr“ (ebd.).

 

Unterschiedlicher fallen Rückmeldungen in der Gruppe E aus, in der die Teilnehmenden teilweise direkt formulieren, mit dem Begriff ,Gender‘ nichts zu verbinden. Andere – wie etwa Max – hätten hingegen Freund*innen, die sich „bei so Themen“ (Pos. 202) austauschten.

 

Auf Nachfrage fällt es ihm aber schwer zu erklären, worauf er hinaus will. Franz wiederum wird in seinen Ausführungen differenzierter und erklärt, dass er zwischen Gender/Geschlecht und Geschlechterrollen unterscheidet, wobei er davon ausgeht, dass alle Menschen eine Geschlechterrolle haben beziehungsweise spielen und er nicht einfach auf das Geschlecht anderer schließen kann. An dieser Stelle wird es für Franz, dessen Erstsprache nicht Deutsch ist, aufgrund der Sprachbarriere aber schwierig, seine Gedanken in Worte zu fassen. Dies ist auch ein Grund, warum es schwieriger wird, seine Inhalte einzuordnen: Durch einen Deutsch-Englisch-Mix nutzt er die Begriffe ,Geschlecht‘ und ,Gender‘ eventuell anders als der Rest in seiner Gruppe. Wo ,Geschlecht‘ erklärend mit ,Gender‘ übersetzt werden muss, werden Perspektiven gegebenenfalls verzerrt: Da im Englischen das sogenannte soziale und das sogenannte biologische Geschlecht qua Sprache unterschieden werden, entstehen vermutlich andere Bilder, Konnotationen und Denkweisen als bei Menschen, die in deutscher Sprache darüber nachdenken. Paul äußert sich ebenfalls differenzierter und erläutert, welche Formen von Geschlecht er kennt: „Also die, erst mal die zwei Basisgeschlechter, könnte man sagen, das ist ja männlich beziehungsweise weiblich. Und noch das Geschlecht, dass man beides ist, dann gibt es halt noch transsexuell und so weiter. So“ (Pos. 193). Er hat selbst Freund*innen, „die trans beziehungsweise nonbinär sind“ (Pos. 195), weswegen er sich in seiner Freizeit mit seinen und durch seine Freund*innen schon viel damit beschäftigt hat und sie auch miteinander viel darüber sprechen.

 


[17] Dies zeigt sich etwa am Beispiel des sogenannten Genderns: Wo die Verwendung geschlechtersensibler Sprache gemeint ist, wird häufig übersehen, dass Sprache an sich immer vergeschlechtlicht ist. Das heißt, dort, wo eben nicht ,gegendert‘ wird, findet Geschlecht ebenfalls Berücksichtigung – in der Regel die männliche Form. Anders formuliert: Es ist gar nicht möglich, nicht zu ,gendern‘. Wir ,gendern‘ qua unserer Formulierungen. So führt Paula-Irene Villa aus: „Neuartige bzw. vom [M]ainstream abweichende Schreibweise [sic!] werden oft als ‚[G]endern der Sprache‘ bezeichnet. Das ist nicht ganz richtig. Denn die Form des generischen Maskulinums – ,der Lehrer‘, ,die Erzieherin‘ oder ,der Arzt‘ als Berufsbezeichnung für alle Geschlechter z. B. – ist selber gegendert“ (Villa 2016, S. 5).

Kapitel 
5.3

Geschlechterwissen über und durch Social Media

Um mit den Teilnehmenden über ihr Verständnis von Geschlecht und ihre Rezeption und Produktion von Geschlechterinszenierung ins Gespräch zu kommen, ohne dabei unmittelbar auf die jeweils eigene Geschlechtsidentität abzielen zu müssen, wurden die Methoden Wer hat’s gesagt? und Lieblingsaccounts eingeführt. Auf diesem Weg war es möglich, verschiedene Bezugspunkte zu Geschlecht zu diskutieren, ohne dabei eine eigene geschlechtliche Identifizierung in den Mittelpunkt zu rücken. Da deshalb relativ wenig über die eigene Geschlechtsidentität gesprochen wurde, können entsprechend kaum konkrete Bilder von Geschlecht ausgemacht werden, an denen sich die Teilnehmenden unmittelbar orientieren. Orientierungspunkte werden dennoch deutlich, wenn Einzelne über eigene Interessen und Aktivitäten sprechen, wenn sie benennen, für wen und wofür sie sich auf Social-Media-Plattformen interessieren, und wenn sie darüber hinaus Gedanken zu Aspekten rund um Geschlecht äußern. Auch die jeweiligen im Kapitel Geräteverfügbarkeit und Nutzungsspektrum von Online-Angeboten beschriebenen Nutzungsweisen geben darauf bereits Hinweise. Daneben äußerten vereinzelt Teilnehmende über die Gruppen hinweg eine Meinung dazu, wie wichtig ihnen etwa die Benennung der eigenen geschlechtlichen Identität im Rahmen ihrer Selbstdarstellung auf Social-Media-Plattformen ist. Insgesamt stand die aktive Auseinandersetzung mit der eigenen Geschlechtsidentität jedoch nicht im Vordergrund der Forschungswerkstätten.

 

Entsprechend wurde vornehmlich über Geschlechtsmerkmale allgemein gesprochen und darüber, woran die Teilnehmenden Geschlecht festmachen. Häufig thematisiert wurden in diesem Zusammenhang auch sexuelle Orientierungen; Geschlecht(sidentität) und sexuelle Orientierung gehen bei den Ausführungen der Befragten ineinander über. Da Geschlechtsidentität und Sexualität eng verknüpft miteinander gedacht und verhandelt werden, ist es naheliegend, dass auch die teilnehmenden Kinder und Jugendlichen auf diese Weise denken und sprechen. Über diese Themen wurde überwiegend im Zusammenhang mit den genannten Methoden diskutiert. Oft kristallisierten sich aber auch weiterführende Diskussions- und Themenstränge heraus, die von konkreten Einzelfällen wegführten. Übergreifend zeichnet sich ab, dass die Gruppen Merkmale, die sie in erster Linie mit Frausein oder Mannsein in Verbindung bringen, auf unterschiedlichen Ebenen (er) kennen und äußern. Benannt werden in diesem Zusammenhang die Ebenen körperlicher Merkmale und geschlechtsspezifischer Charakter, das Erscheinungsbild von Personen sowie Interessengebiete und auch Inhalte einzelner Akteur*innen. Darüber hinaus kann herausgearbeitet werden, welche Strategien die Teilnehmenden entwickeln, um mit (für sie) geschlechtlichen Uneindeutigkeiten umzugehen. In den folgenden vier Unterkapiteln wird ausgeführt, welche Bezugspunkte von Geschlecht sich für die teilnehmenden Kinder und Jugendlichen ergeben und welche Irritationen und Brüche bei den Ausführungen entstehen.

Kapitel 
5.3.1

„Das merkt man halt“: Naturalisierungen als Ausgangspunkt von Geschlechtszuordnung

Körperliche Merkmale und Charakterzüge spielen bei den eigenen geschlechtlichen Zuschreibungsprozessen für die beiden Teilnehmerinnen der Gruppe S eine entscheidende Rolle. Am Körperbau und den Kurven sei grundsätzlich zu erkennen, ob eine Person eine Frau oder ein Mann sei, meint Frida. Und auch, wenn Männer sich schminken oder Perücken aufsetzten, seien sie immer als Männer zu erkennen. Meret pflichtet bei: Egal, wie gut sich ein Junge schminken würde, und selbst wenn er ein Kleid tragen würde, er wäre trotzdem als Junge erkennbar: „[I] rgendwie, das merkt man halt“ (Pos. 373). Auch das Verhalten und der Charakter von Mädchen und Jungen unterscheiden sich, finden die beiden Teilnehmerinnen; so zeigen Jungen beispielsweise weniger Gefühle bei schlechten Noten als Mädchen.

 

Auch in Gruppe I erfolgen geschlechtliche Zuschreibungen anhand naturalistischer Argumentationslinien. Lovis formuliert, dass Frauen und Männer aufgrund ihrer körperlichen Merkmale klar zu erkennen und zu unterscheiden seien. Sie beschreibt, dass Männer einen anderen Körperbau und eine andere Kopfform hätten als Frauen. Frauen seien „insgesamt eher runder“ (Pos. 288) und hätten beispielsweise auch keinen Bartwuchs. Sie erzählt, dass die unterschiedliche körperliche Konstitution von Frauen und Männern in ihrem Biologieunterricht kürzlich Thema gewesen sei: „Männer haben halt eher von dem einen was und das baut halt eher die Muskeln auf und bei den Frauen ist es halt eher eins, das Fett aufbaut, wenn die halt ein Kind bekommen, weil das halt auch sehr fettnährend ist. Und das hat sich halt so entwickelt“ (Pos. 288). Julie pflichtet bei und meint, dass es für Frauen sehr schwierig würde, „den Körperbau von einem Mann nachzubauen, weil allgemein die Form ist, ja bei Männern eher so eine V-Form, wenn man halt sportlicher ist, und bei Frauen bleibt es halt eine gerade Form […]“ (Pos. 286). Auch unterschiedliche Gesichtszüge benennt Julie klar: Bei der Betrachtung von Julia Beautx und Cristiano Ronaldo erkennt sie bei ihm stärker ausgeprägte Wangenknochen und stellt fest, dass Männer in der Regel selten „dickere Lippen haben als Frauen“ (Pos. 292). Beispielhaft bemerkt sie außerdem, dass in ihrer eigenen Familie alle Frauen dünnere Augenbrauen haben als die Männer (ebd.). Wie variabel insbesondere letzteres Beispiel ist, wie leicht hier Gesichtsmerkmale verändert werden können (und eventuell tatsächlich auch werden), wird nicht berücksichtigt.

 

Auch ,charakterlich‘ stellt die Gruppe I klare Unterschiede zwischen Frauen und Männern fest, allerdings werden ebenso Überlegungen dazu angestellt, inwieweit diese durch soziale Erwartungen bedingt oder verstärkt sind. So schreibt Julie Jungen herablassendes und dominantes Verhalten zu und führt dies an ihrem Klassengefüge aus: „Also zum Beispiel in unserer Klasse gibt es halt Jungs, die fühlen sich eigentlich nur dadurch cool, wenn sie andere dissen oder bloßstellen […] und sich über andere lustig machen“ (Pos. 265). Charlotte sieht das ähnlich und ergänzt, dass sich Jungs häufig ,ernsthaft‘ streiten, während Mädchen in Auseinandersetzungen vor allem aus Spaß und freundschaftlich agieren (Pos. 272). Dass dabei auch die Wahrnehmung und Bestärkung von außen eine Rolle spielen könnte, benennt wiederum Julie im Verlauf ihrer Ausführungen. Weil Jungen andere Eigenschaften zugeschrieben und sie anders wahrgenommen werden, werden sie bei einer Auseinandersetzung schlicht ernster genommen als Mädchen:

„[I]ch glaube, die meisten denken sich halt immer so, Mädchen sind schüchterner als Jungs und würden sich so was nicht trauen. Und es kommt irgendwie meiner Meinung nach bei den anderen besser rüber, wenn ein Junge disst als ein Mädchen, weil dann gleich alle irgendwie so rumschreien, so: ,Wow, ja das war richtig gut.‘ Aber wenn ein Mädchen das halt ausspricht, dann ist es halt, keine Ahnung, da ist eigentlich meist niemand begeistert.“ (Pos. 270)

 

Hier wird deutlich, dass sich Julie kritisch damit auseinandersetzt, inwiefern sich jede*r Einzelne den Anforderungen an ein jeweils zugeschriebenes Geschlecht stellen und gegebenenfalls Handlungsmuster entwickeln muss, die mehr äußeren Erwartungen als dem eigenen Bestreben entspringen.

 

Auch in Gruppe P findet sich im Laufe des Interviews eine Kombination der verschiedenen bereits aufgeworfenen Bezugspunkte wieder, um Geschlecht zu erkennen und beschreiben zu können. Darüber hinaus wird grundlegend bezweifelt, ob es überhaupt möglich sei, das Geschlecht einer Person allein aufgrund äußerlicher Merkmale zu bestimmen. Auffällig ist, dass die Stimme als entscheidendes Erkennungsmerkmal eingeführt wird. Dass der eigene starke Bezug zum Gaming für die Zuschreibung von Geschlecht anhand der Stimme für die Teilnehmer eine Rolle spielen könnte, ist naheliegend. Tom erläutert selbst, dass beispielsweise in YouTube-Videos mit Gaming-Inhalten häufig keine Personen zu sehen, aber ihre Stimmen zu hören sind. Entsprechend steht das körperliche Erscheinungsbild der YouTuber*innen häufig nicht im Zentrum der Wahrnehmung. Tom macht eine Geschlechtszuordnung somit zuvorderst an der Stimme von Personen fest und auch daran, wie sie sich ausdrücken. Wenn er eine eher tiefe Stimme hört, geht er eher davon aus, dass es sich um einen Mann handelt. Wenn sich einzelne Personen auch per Kamerabild zu erkennen geben, lässt sich, laut Tom, gut abgleichen, ob Stimme und Person zusammenpassen: „Also es kann ja theoretisch auch sein, dass sich dann die Stimme und Person auch widersprechen. Aber wenn das übereinstimmt, ist es, glaube ich, sehr wahrscheinlich so“ (Pos. 288). In letzter Konsequenz scheint also doch das Erscheinungsbild für Tom die Instanz zu sein, an der ein vermutetes Geschlecht im Zweifel ,abgeglichen‘ werden kann.

 

Peter nennt ebenfalls die Stimme als entscheidendes Merkmal, an dem er erkennen kann, ob eine Person eine Frau oder ein Mann ist. Hingegen sei das Aussehen für ihn kein hinlänglicher Grund, auf das Geschlecht zu schließen. Weitere Überlegungen, sich letztlich nicht sicher sein zu können, führt er beispielhaft an YouTuber Rezo aus, der in seinen Augen als Mann gelesen werden kann: „Aber ich würde jetzt einfach auf Anhieb mal sagen, dass Rezo halt ein Mann ist, weil er sieht aus wie ein Mann, er hat einen sehr starken Bartwuchs, in Anführungszeichen“ (Pos. 292). Gleichzeitig macht er aber deutlich, dass er nicht weiß, beziehungsweise wissen kann, ob Rezo ein Mann ist. Dabei bezieht er sich erneut auf die Stimmlage, da Frauen häufig eine höhere Stimme als Männer hätten und Rezo theoretisch auf technische Hilfsmittel zurückgreifen könnte, wie beispielsweise einen Stimmenverzerrer. Dass eine größere Stimmenvielfalt bei Frauen und Männern – ganz ohne technische Hilfsmittel – existieren kann, wird in die Überlegungen nicht weiter einbezogen. Tom knüpft an dieser Stelle mit Indizien an, aufgrund derer er sich sicher sein kann, dass Rezo ein Mann ist. Dabei bezieht er sich auf Interviewaussagen von Rezo selbst, die sich unter anderem auch auf dessen Selbstbeschreibung als heterosexuell beziehen, und leitet entsprechend ab:

„[D]ass ich mir zu 95 Prozent sicher bin, dass Rezo ein Mann ist, weil es halt in diversen Talk-Formaten halt mitbekommt, dass er sagt, keine Ahnung, dass er auf Frauen […] steht, sage ich mal, und auch heterosexuell ist. Aus dem Zusammenhang kann man sich das ja dann erschließen. Er wäre ja, wenn er ein Mann ist und heterosexuell ist, dann steht er ja in der Regel auf Frauen.“ (Pos. 294)

Kapitel 
5.3.2

„Der hat sehr ausgeprägte Muskeln und zieht bei Toren sein T-Shirt aus“: Tun mit und an dem eigenen Körper

Wie bereits deutlich geworden ist, sind nicht nur körperliche Merkmale, sondern auch das Tun mit und am Körper sowie das eigene Sprechen für die Teilnehmenden häufig entscheidende Hinweise auf das Geschlecht eines Menschen. Das heißt, wie ein Mensch aussieht, wie er sich kleidet und wie er (über sich) spricht, bietet ihnen Anhaltspunkte zur Einordnung. Darüber hinaus gehen die Teilnehmenden auch davon aus, dass es Einzelnen selbst ein Anliegen ist, sich geschlechtlich zu präsentieren und zu inszenieren. Dabei werden Grenzen schnell deutlich: Wenn Menschen als eindeutig weiblich oder männlich gelesen werden können, wird ihnen teilweise abgesprochen, sich ,untypisch‘ oder ,entgegen ihrem Geschlecht‘ präsentieren zu können beziehungsweise zu dürfen. Teilweise wird also deutlich, dass einerseits eine Offenheit für Veränderungen gezeigt wird, um individuelle Freiheiten zuzulassen. Andererseits wird es als Herausforderung empfunden, sich entsprechende Veränderungen vor Augen zu führen und zu akzeptieren, weswegen letztlich doch häufig an konventionellen Mustern festgehalten wird. Hervorsticht in diesem Zusammenhang, dass insbesondere Vorstellungen, wie Männer sich ,typisch weiblich‘ inszenieren, nur schwer gedacht werden können. Vorstellungs- und Möglichkeitsräume werden dabei besonders eng gefasst. Wenngleich immer wieder Aufweichungen geschlechtsspezifischer Standards erfolgen, ist es doch letztlich kein Zufall, dass sich diese Aufweichungen vor allem in eine Richtung bewegen: Wie bereits im Kapitel Geräteverfügbarkeit und Nutzungsspektrum von Online-Angeboten ausgeführt, verbinden sich mit Frausein und Mannsein Machtdynamiken und damit einhergehend Auf- und Abwertungsprozesse von Männlichkeit und Weiblichkeit (vgl. Behm et al. 1999).

 

Dass die Darstellung des eigenen Geschlechts von manchen Personen in der Öffentlichkeit bewusst inszeniert wird, berücksichtigt beispielswiese Charlotte aus Gruppe I in ihren Ausführungen. Für sie gibt es eindeutig weibliche und eindeutig männliche Merkmale, die von Menschen aktiv nach außen getragen werden. So sei es zum Beispiel Cristiano Ronaldo sicherlich wichtig, sich männlich darzustellen, „weil, also man sieht ja auch auf dem Foto, der hat so sehr ausgeprägte Muskeln und zieht auch immer bei irgendwelchen Toren sein T-Shirt aus und so“ (Pos. 299). Ebenso zeige sich Julia Beautx auf dem ausgewählten Foto „ziemlich weiblich“ (ebd.). Hier bezieht sich Charlotte sowohl auf den Inhalt als auch auf die formale Gestaltung des Bildes: „[A]lso so mit dem ganzen Weiß. Sie sitzt glaube ich in einem Bett oder so, alles so strahlend und sie hat ein Kleid an und eine Blume und so und ja“ (ebd.). Einen Mann genauso wie Julia Beautx zu inszenieren kann sich Charlotte nicht vorstellen, wobei sie sich auf andere Zuschauende bezieht und keinen direkten Bezug zu sich selbst herstellt: „[W]enn da jetzt ein Mann sitzen würde, dann fänden die das halt komisch, weil das also ich kann es nicht genau erklären“ (Pos. 301). Dora pflichtet bei: „Ja wenn es halt so ein Mann machen würde, so halt auch mit der Blume und dem Weiß und so keine Ahnung, weiß nicht. Aber ich finde man sieht auch noch mal mehr, dass sie halt weiblich ist, weil sie hat ja, glaube ich, auch ein Kleid an und das haben ja eher Frauen an“ (Pos. 303). Wenngleich Weiblichkeit und Männlichkeit im Tun, in der eigenen Performanz erkannt werden, so wird doch auch engführend und essenzialisierend darüber gesprochen: Julia Beautx wird weiblich gelesen, weil sie ein Kleid trägt; Julia Beautx kann aber auch nur ein Kleid tragen, weil sie weiblich gelesen wird. Entsprechend eng gefasst werden sowohl Bilder von Weiblichkeit als auch von Männlichkeit, wenn es Cristiano Ronaldo eben nicht möglich wäre, als Mann in einem Kleid auf weißen Laken zu sitzen.

 

Auch in Gruppe S erkennt Frida etwa Mavie Noelle in ihrem Mädchensein unter anderem daran, dass sie Kleider trägt. Sie möchte damit nicht ausschließen, dass auch Jungen Kleider tragen (dürfen), „aber würden wahrscheinlich auch in [Mavie Noelles] Alter nicht Jungs machen“ (Pos. 356). Jonas Ems erkenne sie als Jungen im Gegenzug an seinen kurzen Haaren. Frida ist bewusst, dass sowohl Frauen als auch Männer Schönheitsidealen unterliegen, die sich geschlechtsspezifisch unterscheiden. Für Männer nennt sie dabei „so Riesenoberarmmuskeln“ (Pos. 449) – die ihr selbst nicht gefallen –, einen „Sixpack“ (Pos. 453) und auch Tätowierungen. Meret wertet es in diesem Kontext negativ, dass nicht alle so sein dürfen, wie sie gern möchten, und es Zuordnungen für Mädchen und Jungen gibt. Sie führt aus: „Aber ich fände es cool, wenn ein Junge sich schminken würde in unserem Alter“ (Pos. 663). Die beiden Teilnehmerinnen stellen an dieser Stelle fest, dass Mädchen durchaus Hosen anziehen würden, Jungen aber keine Kleider oder Röcke tragen, und Meret räumt diesbezüglich ein: „[M]an könnte sich, denke ich, so ein bisschen dran gewöhnen, aber es passt nicht so“ (Pos. 668). Während sie einerseits also fordert, Zuschreibungen aufzubrechen, merkt sie andererseits, dass es für sie ,nicht so passen‘ würde, würden Jungen Röcke tragen. Insbesondere, wenn es um eine Angleichung von Männern an weiblich konnotiertes Äußeres geht, fällt es Frida und Meret schwer, sich etwas anderes als das ihnen Bekannte vorzustellen. Während Mädchen also mittlerweile selbstverständlich Hosen tragen, funktioniert das Tragen von Röcken bei Jungs nicht in einer solchen Selbstverständlichkeit, weil es mit stärkeren gesellschaftlichen Sanktionen einhergehen würde. Implizit wird entsprechend eine Abwertung weiblich konnotierter – in diesem Fall – Kleidung vermittelt: Mit der Feststellung, dass Jungen eher keine Röcke tragen, geht die Feststellung einher, dass dies ,nicht passen‘ würde. Deutlich werden internalisierte Geschlechterzuschreibungen, die zwar diskursiv immer wieder aufgebrochen werden, im Zweifel aber trotzdem Gültigkeit haben.

Kapitel 
5.3.3

„Bei manchen Sachen gibt es halt auch keine Mädchen, die das machen“: Interessen und Aktivitäten

Mit geschlechterstereotypen Zuschreibungen bezüglich verschiedener Interessen und Aktivitäten gehen die Befragten widersprüchlich um. Viele der Teilnehmenden äußern an verschiedenen Stellen, dass Personen sich nicht an Geschlechterstereotype gebunden fühlen müssen. So müssten sich bestimmte Geschlechter nicht jeweils nur für bestimmte Inhalte interessieren und nicht nur spezifischen Hobbys nachgehen. Dennoch zeigt sich, dass die Teilnehmenden bei ihren Ausführungen selbst stereotypen Geschlechtszuschreibungen folgen. Verwoben sind diese Aspekte mit der eigenen geschlechtlichen Identifizierung. So werden einerseits etwa Inhalte rund um Kosmetik und Mode Frauen und Mädchen zugeschrieben, während diese Zuschreibungen gleichzeitig auch verstärkt von den teilnehmenden Mädchen erfolgen, weil sie Inhalte dieser Art tendenziell häufiger konsumieren. Gleichzeitig erfolgen beispielsweise Darstellungen zu Gaming-Inhalten und der zugehörigen Szene intensiviert von Jungen der teilnehmenden Gruppen, die sich teilweise einerseits (selbst)kritisch damit befassen, inwiefern sie hauptsächlich Inhalte anderer Jungen und Männer rezipieren, und Überlegungen dazu anstellen, warum das Gaming-Feld auf Social-Media- Plattformen männlich geprägt ist. Andererseits werden mit verschiedenen Erklärungsansätzen geschlechtliche Zuschreibungen wiederum verfestigt. Darüber hinaus wird Geschlecht selbst teilweise als Begründung von den Teilnehmenden angeführt, bestimmte Inhalte zu konsumieren oder gerade nicht. Wo individuelle Einschränkungen erfolgen und einzelne Inhalte nur von bestimmten Geschlechtern rezipiert werden, stellen sich Fragen nach Sozialisations- und Orientierungspunkten ebenso wie Fragen nach spezifischen Kompetenzzuschreibungen. Tendenziell sind es die Teilnehmenden, die sich selbst als Mädchen identifizieren, die sich teilweise deutlich an den von ihnen rezipierten Inhalten orientieren: Eine gesunde Lebensführung – etwa mit Blick auf entsprechende Rezepte oder Sportinhalte – verweist auf einen neoliberalen Zeitgeist, der schon bei jungen Menschen die Auseinandersetzung mit der eigenen Gesundheit, insbesondere aber auch mit der eigenen Fitness auslöst und dessen Folge ein beständiges optimierendes Arbeiten am eigenen Selbst ist. Soziale Medien können hier als Verstärker wirken, da die entsprechenden Kanäle genau jene Bilder zeichnen und vermitteln.

 

Die beiden Teilnehmerinnen der Gruppe S erkennen auf der Ebene der Interessen und mit Blick auf die Inhalte von Social-Media-Akteur*innen Unterschiede zwischen Frauen und Männern beziehungsweise zwischen Mädchen und Jungen. So verortet Frida den Bereich des – von ihr sehr geschätzten – Turnens bei Mädchen und das Feld der Comedy bei Jungen. Sie betont an dieser Stelle zwar auch, dass jede*r alles machen kann und darf, in letzter Konsequenz zieht sie für sich aber eine Trennlinie: „[M]ein Geschmack ist einfach, schaue ich lieber Schmink- und Lifestyle von einem Mädchen an, weil da sehe ich auch, wie andere Mädchen leben. […] Und für Jungs ist dann eher so Comedy und vielleicht ein bisschen ernstere Sachen oder so was auch“ (Pos. 336 ff.). An dieser Stelle wird entsprechend ein reziproker Bezug auf Interessen und Inhalte hergestellt: Entscheidend ist einerseits, welchen Aktivitäten und Hobbys andere Jungen und Mädchen nachgehen. Andererseits sind wiederum gegebenenfalls nur bestimmte Inhalte für die eigene Person von Interesse – aufgrund des eigenen Geschlechts. Entsprechend gehen Frida und Meret davon aus, dass es einen Unterschied macht, ob sich eine Frau oder ein Mann im Internet präsentiert, und sie sehen dabei stereotype geschlechtsdifferierende Interessengebiete. So meint Meret, dass Julia Beautx Inhalte produziert, die eher „halt auch so Mädchen interessieren“ (Pos. 195). Und Frida formuliert allgemeiner:

„[W]eil zum Beispiel Mädchen, jetzt vielleicht ein bisschen älter als wir, interessieren sich dann eher für Schminksachen oder so. […] Und oder auch Pferde oder so. Und viele Jungs, also ich denke, fast alle Jungs interessieren sich jetzt nicht so für Schminke. Und vielleicht schon für Pferde, aber ich denke auch nicht so viele, die jetzt reiten oder so. […] Oder zum Beispiel Tanzen, Balletttanzen oder so. Ist es denke ich auch eher für Mädchen.“ (Pos. 655 ff.)

 

Außerdem kann es eine Rolle spielen, wer Interessengebiete vermittelt. So formuliert Meret klar, dass sie aufgrund ihres eigenen Mädchenseins kein Interesse an Videos von Jungen hat. Sie geht dabei zwar davon aus, dass Jungs sich sowieso mit anderen Inhalten beschäftigen als Mädchen, aber selbst bei denselben Inhalten würde sie ausschließlich Videos von Mädchen ansehen. Ein Turnvideo von einem Jungen würde sie entsprechend auch eher nicht anklicken, obwohl sie sich grundsätzlich sehr für diesen Bereich interessiert, dazu beispielsweise Videos von Mavie Noelle ansieht und selbst gern turnt. Auch Frida interessiert sich bei vielen Themen im Zweifel stärker für die Perspektive von Mädchen. Besonders beeindruckt ist auch sie von der Lebensweise von Mavie Noelle: „Dass sie jeden Tag es schafft, jeden Tag eine, zwei Stunden Sport zu machen. Das finde ich schon sehr beeindruckend, weil das ist bestimmt sehr anstrengend. Ich mache vielleicht so vier Mal in der Woche Sport, dann ungefähr eine halbe Stunde, Stunde. Das finde ich zum Beispiel sehr beeindruckend. Oder zum Beispiel […], dass sie sehr, sehr gesund lebt“ (Pos. 504). Auch die Rezepte von Mavie Noelle schaut sie sich gern an: „[Z]um Beispiel Nicecream, das ist Bananen und Joghurt und das mixt man und stellt man in das Eisfach und dann ist keine Icecream, sondern Nicecream. Weil es halt […] gesund ist, aber die Konsistenz von Eis hat“ (Pos. 511). An dieser Stelle treten verschiedene Aspekte zutage. Zum einen muss festgehalten werden, wie stark sich bereits das noch sehr junge Mädchen Frida an einem Leistungs-, Fitness- und Gesundheitsdiskurs orientiert, der sich durch gesellschaftliche Prozesse hin zu einer Individualisierung etabliert hat und einem neoliberalen Geist der Selbstoptimierung folgt. Zum anderen wird deutlich, dass auch bei ähnlichen oder denselben Themen die Perspektive von Mädchen für Mädchen mehr von Interesse sein kann als die von Jungen. Dabei kann es eine Rolle spielen, dass Mädchen aufgrund ihrer Sozialisation und ihrer Erfahrungen einen ähnlichen Interpretationshintergrund entwickeln und eine ähnliche Sicht auf die Welt. Somit kann eine Einschätzung durch ein anderes Mädchen eventuell mehr Orientierungspunkte bieten, beispielsweise um sich eine eigene Meinung zu bilden und entsprechend zu handeln. Zum anderen bleibt die Rezipientin stärker abgesichert, wenn sie sich an der Einschätzung eines anderen Mädchens orientiert. Gegebenenfalls werden Mädchen bei bestimmten Themen auch schlicht für kompetenter gehalten als Jungen, gegebenenfalls treten aber auch bei den einzelnen Rezipient*innen aufgrund diskursiver Zuschreibungen an verschiedene Geschlechter entsprechende (inhaltliche) Erwartungen auf. Letzteres wird etwa bei Lernvideos offensichtlich, bei denen Meret plötzlich eine Ausnahme formuliert: Dort „macht es mir jetzt nichts aus, wenn halt da ein Mann steht und das an der Tafel erklärt oder so“ (Pos. 310). In diese Richtung ist auch die inhaltliche Ausrichtung von Frida zu deuten, wenn sie sich beispielsweise ernstere Inhalte auch gern von Männern ansieht. Diese Aussagen lassen unterschiedliche Interpretationen zu. Einerseits ist der Schluss möglich, dass die beiden Teilnehmerinnen davon ausgehen, dass es zu objektivem Wissen keine unterschiedlichen (geschlechtlich geprägten) Perspektiven geben kann und es entsprechend keine Rolle spielt, wer die Inhalte vermittelt. Andererseits kann auch ein Bild des Wissen vermittelnden und in der Öffentlichkeit stehenden Mannes implizit eine Rolle spielen. Inwiefern Frauen bei bestimmten Inhalten also einerseits als kompetenter wahrgenommen werden, bei anderen Inhalten aber indirekt eine Abwertung qua ihres Geschlechts erfahren, bleibt diskussionswürdig. Dass sich Frida und Meret stark an der geschlechterstereotypisierten Praxis ihres Umfelds orientieren, wenn es um Geschlechtsmerkmale und -rollen geht, wird in jedem Fall deutlich.

 

Anders stellt sich die Darstellung bei der Gaming-Gruppe P dar. Zum einen wird dort formuliert, dass es keinen Unterschied macht, welche Person den jeweiligen Inhalt erstellt, zum anderen wird zusätzlich reflektiert, aus welchen Gründen die Gruppenmitglieder dennoch häufig vor allem Inhalte von Männern rezipieren. So geht beispielsweise Tom davon aus, er würde dem Account von Rezo auch dann folgen, wenn er von einer Frau gemacht würde, da es ihm grundsätzlich um den Inhalt gehe, den Personen erstellen: „Also zum Beispiel // die Zerstörungsvideos[18] würde ich jetzt auch gucken, wenn es irgendwie eine Frau gemacht hätte oder so“ (Pos. 255). Er stellt aber gleichzeitig mit einem Blick auf seine Abonnements fest, dass er insgesamt nur relativ wenigen weiblichen Personen folgt. Er überlegt, dass dies unter anderem auch am Algorithmus der Plattform liegen könnte, der ihm nur wenige Accounts von Frauen vorschlägt. Gleichzeitig denkt er aber auch, dass Frauen seltener Inhalte produzieren, für die er sich interessiert: „Aber was auch sein kann, ist, dass die einfach nicht direkt den Content machen, den ich halt auf YouTube gucke so. Also es kann auch sein, dass es viele Frauen und Mädchen gibt, die auch Kategorie Gaming oder sonstige Sachen machen, aber die da auch einfach nicht direkt die Sparte treffen so“ (Pos. 278). Auch Andy ist es grundsätzlich egal, welches Geschlecht die Personen haben, denen er folgt. Er stellt aber ebenfalls fest, dass die Inhalte, die er verfolgt – insbesondere im Bereich Gaming (Minecraft) – in aller Regel nicht von Frauen erstellt werden. Ihm fallen ad hoc nur zwei Gaming-YouTuberinnen ein, denen er folgt:

„Und das wären dann AwesomeElina und so eine, da weiß ich aber jetzt aktuell den Namen nicht, die streamt halt englisch quasi. Ja. Und sonst wäre mir das eigentlich ehrlich gesagt egal, aber ist da dann halt schwierig, wenn es da dann nicht so die Content-Macher gibt, die das dann halt machen. Weil bei manchen Sachen, gibt es dann halt auch keine Mädchen, die das machen, oder Frauen.“ (Pos. 264)

 

Warum Frauen tendenziell weniger im Gaming-Bereich auf YouTube produzieren, weiß Andy nicht; er denkt, dass sie eher andere Inhalte erstellen. Tom und Andy schildern an dieser Stelle Eindrücke, die sich mit Statistiken decken. Wenngleich viele Mädchen und Frauen aktiv im Gaming-Bereich unterwegs sind, ist das Feld insgesamt und vor allem auch in seiner (professionellen) Wahrnehmung nach außen männlich geprägt. So hält Sabine Hahn fest, dass fast die Hälfte aller Gamer*innen weiblich ist (vgl. Hahn 2017, S. 69), Dmitri Williams et al. erarbeiten wiederum, dass Gaming allgemein als männliche Domäne wahrgenommen wird (vgl. Williams et al. 2009, S. 700 ff.). Danielle Kelly et al. stellen darüber hinaus dar, dass Frauen in der Gaming-Szene als weniger kompetent wahrgenommen werden (vgl. Kelly et al. 2022).

 

Robert nimmt noch eine weitere, stärker interessenbezogene Perspektive in den Blick: Er geht davon aus, dass er und die anderen Gruppenteilnehmer „eher jungsspezifische Spiele spielen, wie Minecraft oder Ego-Shooter oder so“ (Pos. 268), es daneben aber viele weitere Spiele mit anderen Inhalten gebe, von denen sich Mädchen eventuell mehr angesprochen fühlten. Allerdings stimmt er zu, dass auf den großen Social-Media-Plattformen mehr Gaming-Inhalte von männlichen Personen eingestellt werden:

„Aber es gibt ja auch viele andere Spiele, zum Beispiel Animal Crossing oder es gibt ja auch so Anime-Spiele, wo man halt einfach in einer Welt rumläuft. Und ich glaube auch, dass Zelda ganz viele Mädchen spielen. Und also es gibt durchaus auch viele Mädchen, die Videospiele spielen, aber wenn man jetzt zum Beispiel auf Twitch oder auf YouTube guckt, gibt es mehr Gaming-Videos von männlichen Personen wie von Frauen.“ (Pos. 268)

 

Zu seinen Ausführungen zu geschlechtsspezifischen Interessen ergänzt er: „Also natürlich ist es nur ein Mythos“ (Pos. 270) – es sei ein Mythos, dass von ,jungsspezifischen Spielen‘ oder ,jungsspezifischen‘ Hobbys ausgegangen wird, wie beispielsweise FIFA, da ebenso Frauen gern Fußball spielten: „[I]ch will halt damit ausdrücken, dass das solche Spiele sind, die halt dann von den Statistiken her mehr Jungs gefallen als Mädchen“ (ebd.). Umgekehrt führt er auf, gebe es auch Jungen, die sich beispielsweise für „Putzspiele und Fürsorgespiele, wo man dann halt zum Beispiel sich um ein Baby kümmern muss oder so“ (Pos. 272) interessieren würden – sich selbst zählt er nicht dazu –, in der Tendenz spielten aber Jungen lieber Spiele wie beispielsweise Fortnite oder Minecraft. Ein komplexer Aspekt, über Geschlecht und seine Relevanz in der Welt zu sprechen, tritt an dieser Stelle deutlich zutage. Einerseits spricht Robert selbst von einem ,Mythos‘, wenn es um geschlechtsspezifische Interessen geht. Andererseits verfestigt er mit seinen Ausführungen wiederum ebenjenen Mythos, wenn er Putz- und Kümmerspiele als Beispiele für Interessengebiete aufführt, die er zuvorderst Mädchen zuschreibt. Wo ihm also eine gesellschaftliche Konstruktion geschlechtlicher Zuschreibungen bewusst ist, kommt er trotzdem nicht umhin, ebenjene Zuschreibungen selbst zu tätigen. Ähnlich verhält es sich auch bei der Argumentation von Andy, der ebenfalls davon ausgeht, dass es im Gamingbereich unterschiedliche Zielgruppen gibt und beispielsweise Minecraft entsprechend von weniger, aber auch von Mädchen gespielt würde. Dabei überlegt er, warum dies eigentlich der Fall ist, da das Spiel an sich „nicht geschlechtsspezifisch mit irgendwie schießen oder so“ (Pos. 274) ist. Wo einerseits also ein Bewusstsein herrscht, dass ebenso Mädchen beispielsweise Minecraft spielen, herrscht andererseits die Annahme, dass Mädchen aufgrund ihres Geschlechts kein Interesse an Schießen hätten.

 


[18] Tom bezieht sich hier auf eine Reihe von Videos, die auf dem Kanal Renzo veröffentlicht wurden, um sich kritisch mit gesellschaftspolitischen Themen auseinanderzusetzen. Das erste Video dieser Art erschien am 18.05.2019 unter dem Titel „Die Zerstörung der CDU“ (https://www.youtube.com/watch?v=4Y1lZQsyuSQ, zuletzt geprüft am 18.08.2022).

Kapitel 
5.3.4

„Er sah schon wirklich, wirklich aus wie eine Frau“: (Un)Eindeutigkeiten

So eindeutig die Teilnehmenden der verschiedenen Gruppe teilweise über geschlechtliche Zuordnungen sprechen, so uneindeutig werden sie an anderer Stelle, wenn einzelne Merkmale oder das gesamte Erscheinungsbild von Personen im Ganzen nicht in das binäre Schema passen. Ein häufiges Mittel der Wahl ist es dann, ebenjene Personen in ein bestehendes Schema einzupassen. Deutlich wird entsprechend, dass immer wieder der Versuch unternommen wird, Einzelnen klar eines der binären Geschlechter zuzuweisen; nur hin und wieder wird in Betracht gezogen, dass sich Menschen selbst gegebenenfalls nicht eindeutig einem dieser beiden Geschlechter zuordnen können oder möchten. Der Umgang damit ist entsprechend unterschiedlich: Mal wird eine Entscheidung für eine eindeutige Zuordnung getroffen, anhand derer weitere Argumentationen erfolgen. Mal wird sprachlich changiert, um Unsicherheiten und Unwissen deutlich zu machen. Häufig fehlt entsprechendes Vokabular, um differenzierte Formulierungen und Beschreibungen zu finden. So wird beispielsweise häufig von ‚Transsexualität‘ gesprochen, wenn die Kinder und Jugendlichen Geschlecht und/oder Sexualität näher umschreiben möchten, wenngleich in ihren jeweilige Ausführung deutlich wird, dass sie den Begriff nicht immer zutreffend verwenden. Insgesamt zeigt sich: Wo sich für die Teilnehmenden Uneindeutigkeiten zeigen, wird verstärkt über eine geschlechtliche Wandelbarkeit und Diversität nachgedacht. Gleichzeitig wird deutlich, dass eine geschlechtliche Binarität grundsätzlich nicht infrage gestellt wird. Vielmehr werden uneindeutig gelesene Geschlechter neben den ,eigentlichen‘ Geschlechtern als ‚etwas anderes‘ markiert. Diese als ,anders‘ markierten Geschlechter, die ,sein dürfen, wie sie wollen‘ und ,lieben dürfen, wen sie wollen‘, stehen gleichsam ,neben‘ dem unangetasteten binären Geschlechtermodell.

 

So wird beispielsweise in der Gruppe I von Lovis über Marvyn Macnificent abwechselnd von ,sie‘ und ,er‘ gesprochen. Lovis beschreibt Marvyn Macnificent als weiblich aussehend, aufgrund von viel Make-up und einem Kleidungsstück, das ein Kleid sein könnte. Die Hose, von der Marvyn Macnificent in seinem angeführten Zitat selbst spricht, ist für sie allerdings männlich konnotiert. Ähnlich formuliert die Teilnehmerin eigene Unsicherheiten bezüglich der geschlechtlichen Zuordnung von Riccardo Simonetti, wobei sie sich auch hier in einem binären Beschreibungssystem bewegt und mit optischen Merkmalen changierend darüber nachdenkt: „Ich weiß nicht, weil ich glaube, das ist eine Sie und sie hat einen Bart oder ist ein Er mit langen Haaren“ (Pos. 121). Auch Julie nutzt den abwechselnden Sprachgebrauch, um mit eigenen Unklarheiten bezüglich der geschlechtlichen Einordnung von Marvyn Macnificents Person umzugehen: „Und ich würde mir eher denken, dass es der Letzte oder die Letzte ist. Also der, ich weiß nicht, die?“ (Pos. 109). Dora tendiert ebenfalls dazu, Marvyn Macnificent als Frau zu sehen, wobei sie nicht konkretisieren kann, woran sie das festmacht. Charlotte wiederum kann an verschiedenen Aspekten deutlich machen, woran sie eine geschlechtliche Zuordnung festmacht. Während weiterhin ein abwechselnder Sprachgebrauch verwendet wird, springt sie innerhalb eines Diskurses um Natürlichkeit von Gesichtszügen über Make-up bis hin zu operativen Eingriffen, wobei sie die Unterschiede zwischen diesen dreien für sich jeweils gut trennen kann:

„Also ich denke bei den letzten beiden dieser oder diese, was weiß ich, Riccardo Simonetti, also da finde ich, also der oder die ist ja geschminkt auf jeden Fall, deswegen sehen die Augen ein bisschen mehr nach einer Frau aus, aber das liegt wahrscheinlich nur an der Schminke. Und also, ich finde, die Gesichtszüge sehen eher aus wie bei einem Mann, also so die Wangenknochen und so. Und bei der oder dem Marvyn Macnificent da, der oder die sieht auf jeden Fall eher aus wie eine Frau von den Gesichtszügen. Aber man sieht auch, dass er oder sie sehr, sehr viele Schönheitsoperationen im Gesicht hatte. Also das sieht halt überhaupt nicht natürlich aus und deswegen kann man es da nicht genau sagen. Also es könnte eine Frau sein mit vielen Schönheitsoperationen oder ein Mann, also kann man nicht genau sagen.“ (Pos. 294)

 

Für Frida aus Gruppe S hingegen ist klar, dass Riccardo Simonetti ein Mann ist, wobei er ,anders aussieht als andere Männer‘. Sie schätzt Riccardo Simonetti entsprechend selbstbewusst ein, weil er sich auf diese Weise im Internet präsentiert. Mit Blick auf seine in seinem Zitat erklärte Homosexualität formuliert sie: „[E]s ist ja nicht schlimm, […] weil jeder kann ja lieben, was er will“ (Pos. 179). Und auch wenn es kein Muss sei, so fände sie es doch wichtig, wenn sich Menschen outen, weil „jeder darf so sein, wie er will“ (Pos. 214). Ihre Gesprächspartnerin Meret ergänzt: „Und man muss sich nicht dafür schämen“ (Pos. 215). Auch Gruppe P stellt verschiedene Vermutungen auf. So meint etwa Andy, Riccardo Simonetti als Mann zu erkennen, der sich als Frau verkleidet. Peter wiederum formuliert, „[d]er ist ja irgendwie Mann und Frau […] gleichzeitig“ (Pos. 154). Es gäbe zwar auch Frauenbärte, diese seien dann aber nicht so intensiv ausgeprägt wie bei Simonetti. Außerdem sei das Gesicht geformt wie bei einem Mann. Tom hingegen geht davon aus, dass Simonetti ein trans* Mann ist. Bei Marvyn Macnificent wird die Geschlechtszugehörigkeit in dieser Gruppe – im Gegensatz zu den anderen Gruppen – nicht infrage gestellt. Entsprechend entstehen für die Teilnehmenden selbst keine Uneindeutigkeiten, allerdings entspricht ihre Zuordnung nicht der Selbstbeschreibung von Marvyn Macnificent: Alle aus der Gruppe, die sich zur Person äußern, ordnen ihn als Frau ein. Für Robert klingt allein der Name schon weiblich. Außerdem entspräche das Äußere von Marvyn Macnificent einer Frau, „weil die sieht jetzt in dem Fall sehr geschminkt aus und auch sehr gestylt und alles […]“ (Pos. 191). Ein Bezug zu Transsexualität wird auch in Gruppe I hergestellt: Julie formuliert, dass es Menschen gibt, die „halt irgendwie transsexuell sind oder so“ (Pos. 297). Dabei nennt sie Herausforderungen, vor die transsexuelle Menschen gestellt werden können:

„[D]ie wollen das halt zeigen, dass sie halt beweisen, die das nicht interessiert, was andere über sie denken, die wollen halt zeigen, dass sie das halt sind und nichts daran das halt ändern kann. Aber es könnten auch welche sein, die haben Angst, wie sie behandelt werden, wenn sie halt ihr echtes Ich zeigen würden, halt vom Aussehen her, vielleicht vom Charakter. […] weil es ist ja auch schwierig, dass manche sich halt zurechtfinden, ne, wenn sie halt ihre Sexualität ändern, oder so könnte ich mir schon vorstellen, dass es schwierig ist auch Freunde, weil man wird ja auch ausgeschlossen von anderen.“ (ebd.)

 

Augenscheinlich herrscht ein Bewusstsein dafür, mit welchen Schwierigkeiten trans* Menschen in ihrer Umgebung konfrontiert werden können. Gleichzeitig tritt nach wie vor ein Othering (vgl. Kapitel Hintergründe zu Historie und Geschlechtertheorie) einzelner Personen, eine Herausstellung eines ,Anderen‘ neben etwas ,Eigentlichem‘, ,Normalem‘ hervor. In Bezug auf Transsexualität führt Alma aus der Gruppe F wiederum an, dass das Geschlecht einer Person keine Rolle spielt, weil Menschen auch transgender sein könnten, ohne dies nach außen zu kommunizieren. So wäre es beispielsweise denkbar, dass eine Person in einem Frauenkörper geboren wurde, sich aber als Mann identifiziert: „Also [Herr Anwalt] hätte ja auch als Kind eine Frau sein können und jetzt ist er ein Mann und sagt es jetzt nicht“ (Pos. 403). Darüber hinaus wird allgemein an verschiedenen Stellen in unterschiedlichen Interviews deutlich, dass „trans“ häufig als Erklärung verwendet wird, wenn Uneindeutigkeiten bestehen oder aber Unwissenheit darüber, wie beispielsweise geschlechtliche Identifizierungen oder sexuelle Orientierungen benannt werden (können). So meint etwa Lovis aus Gruppe I im Anschluss an ihre Gesprächspartnerin: „Und […] bei Riccardo, also da kann man es auch nicht wirklich richtig gut erkennen, ob es jetzt ein Mann oder eine Frau ist. Und ja, ich glaube, der will das nicht so ganz zeigen, also ob er jetzt ganz weiblich oder ganz männlich ist, sondern halt eher so eben trans“ (Pos. 305).

 

Einige der Teilnehmenden formulieren mit Blick auf ihre eigenen Unklarheiten insbesondere in Bezug auf Riccardo Simonetti und Marvyn Macnificent, dass es für sie durchaus von Interesse wäre, das Geschlecht der beiden zu erfahren, wenn auch aus verschiedenen Gründen. Betont wird immer wieder, dass die Perspektive der beiden selbst wichtig wäre, das heißt zu erfahren, wie sich Riccardo Simonetti und Marvyn Macnificent selbst identifizieren: „Ich würde es gerne wissen, wie die das sehen, also wenn sie zum Beispiel das so sehen, dass sie kein bestimmtes Geschlecht haben, dann okay, oder wenn sie sich als männlich sehen, okay, oder als weiblich. Aber ich mich interessiert es halt, wie die das sehen“ (Charlotte/Pos. 315). Lovis findet es wiederum in Ordnung, dass sie die beiden nicht direkt einem Geschlecht zuordnen kann. Es würde sie zwar auch interessieren, „[a]ber wenn man das jetzt nicht weiß, finde ich eigentlich das ganz normal, also ich würde halt die nicht so einteilen müssen“ (Pos. 313). Julie bemerkt vor allem auch die eigenen Hürden, die sich im Laufe des Interviews ergeben haben: „Also mich interessiert es auch, weil wir sitzen ja auch gerade so, also wir vier, rum und rätseln rum halt, welches Geschlecht die sind, und kommen ja auch die ganze Zeit nicht wirklich klar. Dass wir halt ,er‘ oder ,sie‘ zu denen sagen können“ (Pos. 319). Sie weiß auch, dass es Menschen gibt, die sich mit einem bestimmten Geschlecht identifizieren und entsprechend angesprochen werden möchten. Diese Perspektive stellt beispielsweise auch Paul aus Gruppe E heraus, dem es vor allem darum geht, über Personen mit dem richtigen Pronomen sprechen zu können beziehungsweise sie mit den passenden Attributen anzusprechen: „[W]eil so was kann halt sehr verletzend sein, wenn man das nicht richtig anspricht oder mit dem Dead Name oder so was anspricht“ (Pos. 407). Er bezieht sich dabei vor allem auf Personen, bei denen „es halt so nicht wirklich offensichtlich ist“ (Pos. 409). Gleichzeitig scheint es vereinzelt dennoch schwierig zu sein, das Wissen über andere im eigenen Sprachgebrauch entsprechend zu berücksichtigen. So berichtet etwa Frida aus Gruppe S von einer Reportage, die sie im Fernsehen über eine trans* Frau gesehen hat und die für sie nicht mehr als Mann zu erkennen gewesen sei: „Weil er sah schon wirklich, wirklich aus wie eine Frau“ (Pos. 372). Offenbar gibt es Abstufungen, wie sehr Menschen wie eine Frau auftreten können; sie können sich als Frau verkleiden oder aber wirklich wie eine Frau aussehen.

Kapitel 
5.4

Zwischen Schutzbedarf und Authentizität: Aspekte der Selbstdarstellung

Über den Aspekt der Selbstdarstellung auf Social-Media-Plattformen, also die Darstellung der eigenen Person, wurde mit den verschiedenen Gruppen unterschiedlich intensiv gesprochen. Teilweise wurde der Aspekt vertieft thematisiert, teilweise kaum oder sogar nicht diskutiert. Neben zeitlichen Gründen ist dabei auch die jeweilige Altersspanne relevant: Ältere Teilnehmende haben tendenziell mehr Ideen dazu, was ihnen bei ihrer Selbstdarstellung wichtig ist als jüngere – teilweise pflegen die Jugendlichen auch eigene Accounts. Insgesamt wurde zu diesem Bereich aber im Konjunktiv gesprochen, das heißt, thematisiert wurden vor allem Fragestellungen, was den Teilnehmenden wichtig wäre und was sie gegebenenfalls tun würden. Deutlich wird dabei, dass vielen der Befragten die geschlechtliche Darstellung oder Benennung kein besonderes Anliegen ist; manche würden ihr Geschlecht nicht explizit kenntlich machen, andere würden sich einmal entsprechend vorstellen, wieder andere würden gegebenenfalls in ihrem Profil beispielsweise ein entsprechendes Symbol einfügen. In den Fokus möchte es keine*r der Teilnehmenden rücken. Einige gehen aber auch davon aus, dass andere sie geschlechtlich einordnen könnten, beispielsweise anhand ihrer Stimme. Insgesamt wird deutlich, dass den Befragten vor allem wichtig wäre, sich authentisch zu zeigen und nicht zu verstellen.

 

 

In Ansätzen kristallisieren sich in diesem Themenzusammenhang weitere Aspekte heraus. So scheint vielen der Teilnehmenden bewusst zu sein, dass andere sich durch eine falsche geschlechtliche Ansprache verletzt fühlen, weswegen die Sichtbarmachung des eigenen Geschlechts gegebenenfalls hilfreich sein könnte. Daneben steht für viele der eigene Schutzbedarf insbesondere bis zu einem gewissen Alter im Vordergrund, weswegen das Hochladen von Bildern der eigenen Person häufig ausgeschlossen wird, und auch die Tatsache, dass insbesondere Mädchen und Frauen vermehrt mit Hatespeech und Cybermobbing konfrontiert werden, ist einigen der Befragten bewusst.

 

Regina aus der Gruppe F meint, dass sie über sich selbst vor allem interessenbezogen schreiben würde – dass sie gern kocht, warum sie gern kocht und dass auf ihrem Account Kochvideos zu finden sind. In kurzen Angaben über sich selbst würde sie außerdem ihren Spitznamen vermerken und gegebenenfalls ihre Accounts auf anderen Plattformen. Ihr Alter und ihren echten Namen möchte sie nicht kommunizieren, „[w]eil es geht ja eigentlich nur mich an“ (Pos. 479). Dass sie ein Mädchen ist, würde sie aber benennen – entweder würde sie es aufschreiben oder ein entsprechendes Symbol verwenden: „[E]s gibt ja solche Zeichen für männlich oder weiblich“ (Pos. 489). Vermutlich würde sie sich außerdem in einem ersten Video vorstellen und dann auch etwas zu ihrem Geschlecht sagen. Benedetta (10) pflichtet bei und hebt den Aspekt hervor, dass sie ihr Geschlecht ebenfalls kommunizieren würde, weil sie vor allem davon ausgeht, dass andere daran interessiert sind. Auch Paul aus der Gruppe E findet es für seine eigene Darstellung wichtig, dass Menschen für ihn das richtige Pronomen verwenden können. Entsprechend würde er auf seinem Profil sein Pronomen nennen. Das heißt, hier geht es weniger um ein Bedürfnis, die eigene Geschlechtszugehörigkeit zu präsentieren oder gar in den Mittelpunkt zu rücken, sondern vor allem um die Perspektive auf und von andere(n): Das Geschlecht ist wichtig, weil andere daran interessiert sind. Dies zielt in eine ähnliche Richtung wie der bereits im vorherigen Kapitel „Er sah schon wirklich, wirklich aus wie eine Frau.“ (Un)Eindeutigkeiten behandelte Aspekt: Hier hat ebenfalls Paul bereits hervorgehoben, dass das Verwenden eines falschen Pronomens für andere verletzend werden kann. Ergo ist es wichtig zu wissen, wie eine andere Person sich identifiziert, um die entsprechende Ansprache zu verwenden.

 

 

Die Gruppe P hat diesbezüglich eine andere Herangehensweise. Robert beispielsweise weiß, hätte er einen eigenen Account, würde er niemals von Beginn an sein Gesicht öffentlich machen. Er zieht in Erwägung, sich selbst ab einer gewissen Zahl an Abonnierenden zu zeigen (was er gleichsam als eine Art Werbeaufruf formuliert): „Also ich würde dann halt irgendwie sagen, ja, Jungs, und bei einer Million Abonnenten zeige ich zum ersten Mal mein Gesicht oder so“ (Pos. 335). Grundsätzlich stehen für ihn aber negative Momente im Vordergrund, die ein eigenes Foto mit sich bringen könnten, „dass man dann halt extrem doof oder so dargestellt wird von halt Hatern oder so. Und so was würde ich halt auf keinen Fall wollen“ (ebd.). Sich als Junge zu präsentieren beziehungsweise deutlich zu machen, welchem Geschlecht er sich zugehörig fühlt, wäre für ihn jedoch wichtig. Dabei geht es ihm nicht darum, direkt formulieren zu müssen, dass er ein Junge ist; er geht aber beispielsweise davon aus, dass sich Zuschauer*innen dies allein aufgrund seiner Stimme/Tonlage denken können. Für Peter steht ebenfalls fest, sich mindestens vorläufig erst einmal nur mit seiner Stimme zu präsentieren. Für ihn spielt dabei auch sein Alter eine Rolle: Frühestens mit 16 Jahren würde er sich auch mit seinem Gesicht zeigen wollen. Auch bei ihm wird ein Schutzbedarf, den er für sich selbst erkennt, an dieser Stelle klar erkennbar. Auch er würde nicht proaktiv formulieren, dass er ein Junge ist, geht aber auch davon aus, dass es an seiner Stimme zu erkennen wäre. In seinem Podcast hat er bisher noch nie aktiv formuliert, dass er ein Junge ist, allein aufgrund seines Vornamens denkt er aber, dass die Zuhörer*innen ihn entsprechend männlich verorten. Tom argumentiert auf einer themenbezogenen Ebene. Für ihn ist es abhängig von seinem Inhalt, ob er sich dabei selbst zeigt oder nicht:

„Und auch zeigen würde ich mich tatsächlich auch nur, wenn es jetzt in der Art von Content ist, die ich mache. Wenn ich irgendwie Erklärvideos machen würde, die aber nicht nur komplett am Computer animiert sind oder so, dann fände ich das persönlich jetzt eher überflüssig, dann zu sagen, ey, so sehe ich aus. Und dann bräuchte ich den Bereich ja gar nicht. Wenn ich jetzt so Vlogs machen würde, dann würde man vielleicht eher darüber nachdenken.“ (Pos. 339)

 

Dies wäre mehr von Belang, wenn er mit seinen Inhalten beispielsweise auch als Gast in anderen Videos aufträte – spätestens dann wäre es „hinderlich“ (Pos. 359), sich nicht zu zeigen, und „störend“ (Pos. 359), das eigene Gesicht durchgehend mit einem Avatar zu überblenden. Für den Fall, dass er bei anderen Accounts zu Gast wäre, wäre es ihm wichtig, er selbst zu sein und sich mit den eigenen Inhalten auszukennen: „[w]eil wenn ich jetzt irgendwie mich künstlich in eine Richtung bewege, dann kann es halt sehr schnell sein, dass man das halt hart verkackt“ (Pos. 361). Als Frau würde er eventuell länger darüber nachdenken, wie und ob er sich zeigt, weil Frauen mehr Hass und Übergriffigkeit im Netz erfahren als Männer: „[W]eil man vielleicht als Frau auch mehr irgendwie Hate- Kommentare kriegt und eher sagt, boah, die ist voll hässlich, die ist voll fett, oder halt auch unangebrachte Kommentare im sexuellen Bereich so. Da würde ich es mir vielleicht eher überlegen so“ (Pos. 368). Ganz grundsätzlich würde er aber seine geschlechtliche/ sexuelle Identität/Orientierung kenntlich machen – auch weil er davon ausgeht, dass Personen sich verletzt fühlen könnten, die nicht ihrer eigenen Identität entsprechend angesprochen werden: „Also ich würde es persönlich kenntlich machen, auch nicht den Leuten, ich sage mal, unter die Nase reiben, sondern halt aber schon klar sagen, also in meinem Fall zum Beispiel, das ist ein Mann, der ist um die 14 Jahre alt und der ist heterosexuell so. Wäre es zum Beispiel nicht so und mich würde dann vielleicht jemand darauf ansprechen, könnte es ja auch gut sein, dass man sich dann verletzt fühlt, wenn man dann sagt, du bist doch ein Mann, obwohl man sich eigentlich selber als Frau sieht so“ (Pos. 378). Für Andy wiederum geht es auch eher um die Follower*innenzahl oder um die Zahl der Aufrufe eines Videos, die erreicht sein müsste, um sich selbst zu zeigen, da er das grundsätzlich „schwierig“ (Pos. 348) findet. Er meint, sobald er tatsächlich berühmt wäre, könnte er sich sowieso nicht mehr verstecken und dann sei dieser Weg auch besser, als wenn Einzelne persönliche Bilder von Partys im Internet ausfindig machen. Bis dahin würde es aber niemanden interessieren, wie er aussieht. Auch ihm wäre es wichtig, sich authentisch darzustellen und keine „Fake-Identität“ (Pos. 372) zu kreieren. Insgesamt wird deutlich, dass die Teilnehmer der Gruppe P Selbstdarstellungen gern vermeiden möchte. Wo es sich aber nicht vermeiden ließe, spielt Authentizität für sie eine entscheidende Rolle.

 

 

Einen ähnlichen Umgang in Bezug auf Bilder von sich selbst würden auch die Teilnehmerinnen aus Gruppe I verfolgen. Darüber hinaus würden sie tendenziell selbst gar keine eigenen Beiträge verfassen. Sie haben hier vor allem Risiken und Gefahren im Blick. Charlotte würde beispielsweise auf Snapchat selbst überhaupt nichts posten. Dabei überlegt sie, dass es vor allem auch nicht notwendig wäre, sich selbst zu zeigen: „Man muss sich ja, wenn man nichts postet, eigentlich auch nicht irgendwie darstellen. Also man hat nur einen Namen und, wenn man will, ein Bild und mehr nicht“ (Pos. 220). Sie würde in Erwägung ziehen, ein Bild einzustellen, aber niemals von sich selbst. Wenn überhaupt, käme es für sie nur infrage, Bilder von sich hochzuladen, auf denen sie nicht direkt zu erkennen sei – beispielsweise im Sonnenuntergang am Meer. Grundsätzlich verwendet sie aber andere Bilder, wie etwa von ihrem Hund oder einer Blume. Julie würde ebenfalls nichts posten oder das eigene Gesicht zeigen. Alternativ würde sie online ein Bild suchen oder etwas malen: „[Z]um Beispiel wenn man ein Profilbild braucht, irgendwie ein Bild aus dem Internet nehmen, also zum Beispiel irgendwas oder was ich halt selbst mal gemalt habe, oder halt irgendwas, was mir gefällt, halt jetzt als Hintergrund nehmen oder halt als Profilbild“ (Pos. 234). Ihr geht es dabei um Plattformen wie TikTok und Instagram, wobei sie die Gefahr des Cybermobbings in den Fokus rückt: „[W]enn man jetzt […] halt sein Gesicht zeigen würde und dich irgendjemand entweder Bekanntes sieht, aber er dich halt nicht mag, könnte der ja auch anfangen, Cybermobbing zu beginnen oder irgendwas“ (Pos. 236). Lovis stützt sich auf die Ausführungen von Julia: Auch sie würde nicht ihr eigenes Bild beziehungsweise Bilder hochladen, auf denen sie in irgendeiner Form zu erkennen ist.

Kapitel 
5.5

Mediale Bedingungen

Im Laufe der Forschungswerkstätten fallen immer wieder Äußerungen zu medialen Bedingungen ganz verschiedener Art sowie zu Inszenierungsformen. Die Teilnehmenden reflektieren dabei teilweise mehr, teilweise weniger, inwiefern verschiedene Inszenierungsformen, körperbezogene Veränderungen sowie beispielsweise Aspekte rund um technische Veränderungen möglich sind und auch umgesetzt werden. So setzen sich einige der Befragten verstärkt mit den informationstechnischen Bedingungen von Sozialen Medien auseinander, andere hinterfragen insbesondere die Inhalte, die sie rezipieren. Dabei wird einerseits ein individueller Druck formuliert, der etwa mit Blick auf (weibliche) Schönheitsideale auf Einzelnen lastet, andererseits wird deutlich, wie schwer es ist, sich jenem Druck zu entziehen.

 

Dies wurde insbesondere bei Gruppe P immer wieder deutlich, wenn etwa darüber nachgedacht wird, dass es auch an Plattformalgorithmen liegen könnte, dass weniger Kanäle von Frauen vorgeschlagen werden. Dass Geschlecht also auch technisch durch das eigene Nutzungsverhalten mit Blick auf Algorithmen (re)produziert wird, wird an dieser Stelle bedacht: Wo ein Algorithmus Inhalte, die ich ausgewählt habe, verstärkt anbietet und gleichzeitig andere Inhalte nicht (mehr) zeigt, kann auch eine vergeschlechtlichte Komponente deutlich werden. Darüber hinaus spricht die Gruppe unter anderem auch darüber, dass Rezo theoretisch auf technische Hilfsmittel, wie etwa einen Stimmenverzerrer zurückgreifen könne, oder dass einzelne Accounts auch aufgrund einer sehr hohen Abonnierendenzahl häufiger angezeigt werden (vgl. Kapitel „Bei manchen Sachen gibt es halt auch keine Mädchen, die das machen“: Interessen).

 

In Gruppe S erläutert Frida ihre Gedanken und ihr Wissen rund um Schönheitsideale und den Druck, der sich daraus für Einzelne ergeben kann. Sie weiß, dass beispielsweise Dicksein früher ein Kompliment war, und findet es schwierig, dass heute alle Menschen dünn sein wollen. Dabei denkt sie auch über ihre eigenen Bedürfnisse und Motivationen nach:

„[F]inde ich blöd, dass […] alle da dünn sein wollen. Ich will auch dünn sein und ich fühle mich auch öfters mal viel zu dick und dann bin ich auch manchmal ganz unwohl in meiner Haut und dann schaue ich mir diese Bilder an. Und dann vergesse ich immer, dass die schon Tausende von Schönheits-OPen hatten. […] Und bearbeitet wurden und diese ganzen Bilder […] schön gemacht worden, wie die Schönheitsideale sind.“ (Frida/Pos. 404 ff.)

 

Wie internalisiert Diskurse etwa rund um Aussehen und Schönheit sind, wird an diesem Beispiel deutlich. Einerseits ist sich Frida durchaus bewusst, dass mediale Darstellungen häufig nicht der Realität entsprechen und Bilder von Menschen, die als ,schön‘ gelten, oft bearbeitet wurden. Manchmal lassen sie sich sogar operieren, um den medialen Schönheitsidealen nahezukommen. Andererseits ist es ihr trotzdem nicht möglich, sich von eben diesen Idealen loszusagen und freizumachen. Dabei stellt sie fest, dass Schönheitsoperationen wohl weniger der Selbstakzeptanz helfen, sondern eher dazu „da [sind], um anderen zu gefallen“ (Pos. 536). Von dem Kanal Kim Young weiß Frida außerdem einiges über Filterfunktionen und Inszenierungen. So hätte Kim Young beispielsweise erklärt, dass Cremes gegen Pickel aus der Werbung nicht helfen. Außerdem zeige sie auf ihrem Kanal unbearbeitete Fotos, die sie bearbeiteten Bildern gegenüberstellt. Frida findet es grundsätzlich schwierig, dass Menschen sich anders zeigen (möchten), als sie eigentlich aussehen, und sich dadurch auch andere unter Druck gesetzt fühlen, bestimmten Idealen nachzueifern. Sie ist der Meinung, wenn Menschen ihre Bilder bearbeiten, müssten sie dies zumindest kenntlich und transparent nach außen kommunizieren. Sie ist sich dabei sicher, dass nur Frauen ihre Bilder bearbeiten, weil diese allgemein mehr Inhalte von sich ins Internet stellen:

„Stimmt, ich habe noch nie ein Foto gesehen, wo ein Mann sich bearbeitet hat. Wirklich noch nie. […] Weil, zum Beispiel man sieht es schon, wenn man es bearbeitet, weil dann ist zum Beispiel eine kleine Delle im Foto oder wenn zum Beispiel eine karierte Wand hinter ist, dann sind diese karierten Linien nicht ganz richtig und wenn man sich so Fotos / Oder zum Beispiel in Videos, kann man ja schlecht bearbeiten.“ (Pos. 421 ff.)

 

Meret pflichtet bei: Auch sie habe noch nie bearbeitete Inhalte von Männern gesehen. Frida führt das auch darauf zurück, dass Jungen allgemein mehr Selbstbewusstsein hätten als Mädchen und sich deswegen für ihr Aussehen weniger schämen würden – wenngleich auch sie Schönheitsidealen unterliegen. Dass Frida als TikTok-Nutzerin nicht im Blick hat, dass dort sogar sehr niederschwellig Filter auch für Videos verwendet werden können, ist an sich bemerkenswert. Noch bemerkenswerter ist die geschlechtsspezifische Komponente, die in diesem Kontext deutlich wird. Bei der Idee, dass nur Frauen überhaupt Filter und Bildbearbeitungsmöglichkeiten verwenden, wird die Verknüpfung von Schönheit und Weiblichkeit deutlich sowie der höhere Druck, dem Frauen in Bezug auf Schönheitsideale ausgesetzt sind. Trotz Relativierung – auch Männer unterlägen Schönheitsidealen – beruft sich Frida letztlich nur auf Frauen, die an sich, ihren Körpern und ihren Bildern arbeiten (müssen), um einem gesellschaftlichen Ideal zu entsprechen. Eine Begründung darüber hinaus, die darauf abzielt, dass Männer dies auch aufgrund ihres Selbstbewusstseins weniger tun müssten, zielt auf eine naturalistische Perspektive auf (ein binäres Verständnis von) Geschlecht ab. So sehr ein eigenes Bewusstsein über bestehende Ideale existiert und Ideen darüber, was das auch mit der eigenen Person macht, so sehr werden teilweise wiederum naturalistische Fehlschlüsse gezogen.

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