„Der will das nicht zeigen, ob er jetzt ganz weiblich oder ganz männlich ist“

GenderONline – Geschlechterbilder und Social Media zum Thema machen: Online-Forschungswerkstätten mit 10- bis 16-Jährigen

von Valerie Jochim und Christa Gebel
Kapitel 
4

Erheben in Zeiten der Pandemie: Akquise, Methode und Sample

Methodische Herangehensweisen in der qualitativen Forschung erheben den Anspruch, subjektive Perspektiven in den Mittelpunkt zu rücken. Das heißt, einzelnen Stimmen soll Raum gegeben werden, ihre jeweiligen Sichtweisen zu erläutern, um verschiedene Blickwinkel gleichermaßen einfangen zu können und die jeweiligen Themenfelder inhaltlich vertieft auszuleuchten. Zudem sollten die Erhebungsbedingungen so gestaltet sein, dass Kontexte erfassbar sind, die dazu beitragen, den Sinn des von den Befragten explizit Ausgedrückten zu erschließen, so etwa begleitende Mimik und Gestik sowie nonverbale Signale zwischen Teilnehmenden in Gruppen. Solche Vorhaben in Zeiten einer pandemischen Lage umzusetzen, stellt sich als große Herausforderung dar. Entsprechend schwierig war es, ein Forschungssetting zu entwickeln, das der pandemischen Situation angemessen und dem zugrunde liegenden Erkenntnisinteresse gerecht wurde und für das darüber hinaus unter den Kontaktbeschränkungen der Pandemie interessierte Teilnehmende gefunden werden konnten. Zu Beginn war geplant, ein Setting mit Kindern und Jugendlichen in Präsenz durchzuführen, in dem mit verschiedenen Methoden interaktiv an den zugrunde liegenden Fragestellungen hätte gearbeitet werden können. Aufgrund der Pandemie musste dieses Vorhaben überarbeitet und in ein Online- Format umgewandelt werden, auch wenn dabei Beschränkungen bezüglich der Gestaltung eines aktivierenden und möglichst viele Kontexte berücksichtigenden Settings in Kauf zu nehmen waren.
 

Anlaufstellen für die Akquise waren verschiedene Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe, die selbst vor großen Herausforderungen standen. So lag es schließlich an verschiedenen Faktoren, dass es voraussetzungsreich wurde, für ein solches Online-Format teilnehmende Kinder und Jugendliche zu finden. Zum einen konnten die verbandlichen Strukturen kaum langfristig planen und hatten selbst teilweise große Schwierigkeiten, den regelmäßigen Kontakt zu ihrer Klientel aufrechtzuerhalten. Zum anderen erfüllten die jeweiligen Arbeitskontexte teilweise nicht die optimalen technischen und räumlichen Voraussetzungen für das Forschungsvorhaben. Darüber hinaus ist zu vermuten, dass es für Kinder und Jugendliche, die seit der Pandemie schon im schulischen Rahmen häufig Zeit in einem Online- Setting und in Online-Konferenzen verbringen mussten, wenig Interesse an weiteren für sie vergleichbaren Online-Formaten hatten. Die Akquise verlief vor diesem Hintergrund über unterschiedliche Kanäle, um auf vielen Wegen Kinder und Jugendliche zu erreichen; neben den genannten Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe wurden Anfragen auch in schulischen Zusammenhängen und über private Peer-Netze gestreut. So konnte letztlich ein Sample gefunden werden, das sich aus Kinder-und Jugendgruppen ganz verschiedener Kontexte zusammensetzt.

 

Im Folgenden wird auf die methodischen Grundlagen der Begleitstudie eingegangen, um weiterführend auf die konkrete Konzeption und inhaltliche Ausgestaltung der Erhebungssettings – sogenannten Forschungswerkstätten – einzugehen. Anschließend folgt ein kritischer Blick auf den Verlauf der Erhebungssituationen in einem Online-Setting und darauf, welche Herausforderungen sich durch Formate dieser Art für die qualitative Forschung ergeben (können). Abschließend wird das Sample des vorliegenden Vorhabens, die verschiedenen Gruppen und ihre Kontexte, kurz vorgestellt.

Kapitel 
4.1

Methodische Grundlagen und Erhebungssetting

Die Begleitstudie verfolgt einen explorativen Forschungsansatz, um erkundend Wissen und Haltungen von Kindern und Jugendlichen zu Aspekten rund um Geschlecht und Social Media zu erfassen. Diese Herangehensweise hat zum Ziel, Teilnehmenden in adäquat gestalteten Interview-Settings Raum zu geben, eigene Gedanken zu äußern, neue Gedanken zu entwickeln und auch Fragen und Irritationen äußern zu können. Auf diese Weise „[will] man dem Forschungsgegenstand möglichst nahekommen […], um zu neuen, differenzierten Fragestellungen und Hypothesen zu gelangen“ (Mayring 2010, S. 231). Um im Rahmen des vorliegenden Vorhabens einen bestmöglichen Zugang zu Kindern und Jugendlichen und zu ihren Lebenswelten zu bekommen und dabei die pandemische Situation durch Corona angemessen zu berücksichtigen, wurden sogenannte Online-Forschungswerkstätten entwickelt. Niels Brüggen et al. halten für das Format der Forschungswerkstätten fest, dass es ihr Grundsatz ist, „Anlässe zu schaffen, bei denen sich Jugendliche mit Themen auseinandersetzen, ihre Perspektive äußern, sich gegenseitig Reflexionsanstöße geben und gemeinsam inhaltliche Fragen diskutiert werden“ (Brüggen 2014, S. 15). Innerhalb von Forschungswerkstätten sollen entsprechend verschiedene Ausdrucks-und Artikulationsräume für die Teilnehmenden geschaffen und über den Einsatz unterschiedlicher methodischer Zugänge ermöglicht
werden (vgl. ebd.). Letzteres konnte unter den Online-Bedingungen allerdings nur in Ansätzen mit Anlehnungen an die Methode des fokussierten Interviews realisiert werden. Ein Konzept und Leitfaden wurden so ausgearbeitet, dass sich Teilnehmende über Online-Tools beteiligen können. Technisch realisiert wurde das Online-Setting mit der Videokonferenzplattform Whereby und dem Online-Whiteboard miro. Einem halbstrukturierten Interview entsprechend wurde ein Leitfaden gleichsam als „Gerüst für Datenerhebung und Datenanalyse“ (Döring/ Bortz 2016, S. 372) angefertigt, der Spielraum für spontane Nachfragen und das Einbringen neuer Themen ermöglichte. Nicola Döring und Jürgen Bortz erläutern, dass das fokussierte Interview als qualitativer Forschungsansatz an der Stelle sinnvoll zum Einsatz kommen kann, an der mediale Darstellungen in ein Erhebungssetting eingebunden werden, über die im Rahmen von Gruppen- oder Einzelinterviews diskutiert werden kann. Darauf aufbauend wird es unter anderem möglich, situationsspezifisch auf Reaktionen und Anmerkungen der Befragten zu reagieren und verschiedene mediale Darstellungen als Ausgangspunkt für eine tiefergehende Diskussion zu nutzen (vgl. ebd., S. 378 f.).

 

Durch die Online-Bedingungen war es vor allem wichtig, Unwägbarkeiten einzuplanen, wie etwa technische Schwierigkeiten oder Ausfälle. So entstand ein gleichsam modulares Konzept, das in Teilen inhaltlich an die jeweiligen Gruppen angepasst werden konnte und auch technische Notfallpläne beinhaltete. Grundsätzlich wurde bei der Konzeption davon ausgegangen, dass die Teilnehmenden physisch jeweils in einem eigenen Raum, mindestens aber vor einem eigenen Endgerät sitzen. Da dies fallweise nicht in allen Gruppen realisiert werden konnte, musste entsprechend spontan mit der jeweiligen Situation umgegangen werden. Für die Rahmenbedingungen war es für diese noch eher neuartige Erhebungsweise wichtig, die Technik so gut wie möglich vorzubereiten. Daher wurden dort, wo es möglich war, ein paar Tage vor den jeweiligen Erhebungszeitpunkten sogenannte Technikchecks durchgeführt. Das heißt, mit einer Gruppe wurde bereits vorab für etwa 15 bis 30 Minuten ein Treffen realisiert, um alle technischen Komponenten gemeinsam auszuprobieren. Ein zusätzlicher Vorteil daran war, dass die Teilnehmenden auch die Teamer*innen bereits kennenlernen und sich mit der Situation vertraut machen konnten. In der Regel hat sich der Technikcheck als sehr hilfreich erwiesen, da die Teilnehmenden selbst bereits eventuelle Fehlerquellen an ihrer eigenen Technik ausmachen konnten. Darüber hinaus konnten sie sich mit den eingesetzten Tools vertraut machen. Wo ein extra Termin für den Technikcheck vorab nicht möglich war, fand er entweder direkt vor der Forschungswerkstatt selbst statt oder aber er wurde in die Forschungswerkstatt integriert. Letztere Variante bedeutete, ad hoc auf technische Anliegen zu reagieren. Beide Vorgehensweisen hatten ihre Tücken: Wenn es tatsächlich zu technischen Schwierigkeiten kam, dauerte es gegebenenfalls einige Zeit, diese zu beheben. Entsprechend fehlte diese Zeit für die Durchführung der Erhebung.

 

Für die Forschungswerkstatt selbst wurde auf der Basis des Erkenntnisinteresses ein Leitfaden entwickelt, der sich an den verschiedenen übergeordneten Forschungsfragen orientierte. Angesprochen und diskutiert wurden die verschiedenen Bereiche und Aspekte dann im angesprochenen Online-Setting: Das Online- Whiteboard miro diente als Plattform, auf die alle Teilnehmenden zugreifen und auf der sie sich auch aktiv einbringen konnten. So bot miro die visuelle Grundlage, um die unterschiedlichen Fragestellungen vertieft zu thematisieren und auf diese Weise auch die Aufmerksamkeit und das Engagement auf die behandelten Themen zu richten (vgl. Kirchmair 2022, S. 149). Für die Einordnung der Ergebnisse muss grundsätzlich berücksichtigt werden, dass im Rahmen der vorliegenden Inhalte in erster Linie das Ad-hoc-Denken der Teilnehmenden erfasst werden konnte. Das heißt, es werden Gedanken erfasst, die im jeweiligen Moment gegebenenfalls erst entstehen oder angestoßen werden und nicht unbedingt einen Status quo ante des Denkens beschreiben. Dies bedeutet aber auch, dass neben den spontanen Überlegungen der Einzelnen auch Revidierungen und Diskussionspunkte festgehalten werden können, wodurch auch Brüche im Gespräch und im eigenen Denken deutlich werden.

 

Der Leitfaden enthielt folgende methodische Einheiten:
Um Informationen zu den verschiedenen Gruppen zu erhalten, wurde ein kurzer Fragebogen mit drei Items über die Plattform SoSci Survey vorangestellt. Grundsätzlich ist es von Vorteil, so wenig externe Tools wie möglich einzubinden, um etwaige Fehlerquellen zu minimieren. Da es aber für die Einordnung von Gesagtem relevant ist, etwas über das Geschlecht der Teilnehmenden zu erfahren, wurde in diesem Fall auf besagtes Tool zurückgegriffen. Dieses Vorgehen wurde gewählt, um anonym das Geschlecht der Beteiligten abzufragen und auf diese Weise keine möglicherweise unangenehmen Situationen in der Gruppe entstehen zu lassen.[10]

 

Inhaltlich wurde zu Beginn anschließend ein Positionierungsspiel eingeführt, bei dem sich die Teilnehmenden selbst entsprechend ihren Antworten auf einem dargestellten Feld verorten konnten. Gefragt wurde dabei unter anderem, inwiefern sie Social-Media- Plattformen nutzen und wie häufig. Die Antworten dienten als Grundlage zum Einstieg in ein gemeinsames Gespräch.

 

Die anschließende Methode Wer hat’s gesagt? schuf den Rahmen, über verschiedene Accounts und ihre (geschlechtlichen) Darstellungsweisen zu sprechen. Entsprechend wurden vier Accounts ausgewählt und auf dem Board mit Bildern präsentiert, um Impulse zu setzen. Zusätzlich wurden vier Zitate der jeweiligen Personen vorgelesen, die von den Teilnehmenden den Accounts zugeordnet werden sollten. Auf diese Weise boten sich vielfältige Gesprächsanlässe. Ausgewählt wurden für diese Methode die Accounts Julia Beautx, Cristiano Ronaldo, Riccardo Simonetti und Marvyn Macnificent.[11] Auf diese Weise konnte bereits ausgelotet werden, wie (un)bekannt den Teilnehmenden einzelne Accounts sind, was sie über sie wissen, wie sie sie in ihrer Darstellung und Außenwirkung wahrnehmen und anhand welcher Merkmale sie Geschlecht beschreiben. Entsprechend häufig und vielfältig wurde in den gesamten Interviewverläufen auf diese dargestellten Accounts Bezug genommen.

 

Bei der Methode Lieblingsaccounts konnten die Teilnehmenden anschließend eigene Accounts nennen, denen sie gern folgen.[12] Auf diese Weise konnten Gedankengänge nochmals vertieft angesprochen und diskutiert werden. Darüber hinaus wurde verstärkt in den Blick genommen, ob sie beispielsweise einer bestimmten Art (geschlechtlicher) Darstellung folgen. Die Teamer*innen fügten synchron zu den genannten Accounts der Teilnehmenden nach einer kurzen Bildersuche Fotos zur Visualisierung auf dem Online-Whiteboard ein, sodass alle Anwesenden nachvollziehen konnten, über wen gerade gesprochen wird.

 

Auch die Selbstdarstellung wurde in einem Part mit diesem Titel thematisiert, wobei dieses Feld erwartungsgemäß aufgrund des tendenziell noch jungen Alters der teilnehmenden Kinder und Jugendlichen für die überwiegende Zahl der Befragten noch nicht relevant war. Gegebenenfalls konnte hier aber auf dem Whiteboard stichpunktartig festgehalten werden, was den Teilnehmenden bei ihrer eigenen Darstellung oder auch bei der Selbstdarstellung anderer von besonders wichtig ist.

 

Am Ende der Forschungswerkstatt wurde allen Beteiligten die Möglichkeit gegeben, sich noch einmal einzubringen. Dazu wurde eine Methode ausgewählt, bei der die Teilnehmenden eine Rückmeldung zum Verlauf der Online-Forschungswerkstatt gaben, indem sie sich auf einer visualisierten Zielscheibe verorteten und sich dazu äußern konnten.

 


[10] Katharina Debus setzt sich damit auseinander, welche Dynamiken und Risiken in Gruppengefügen entstehen können, wenn Geschlecht und Sexualität thematisiert werden (vgl. Debus 2018, S. 107).

[11] Kurzbeschreibungen zu den vier Accounts finden sich im Anhang. Die ausgewählten Zitate seien aber auch an dieser Stelle genannt. Julia Beautx: „Hallöchen! ❀ Ich bin xxx, 21 Jahre alt und liebe es seit Anfang 2014 Unterhaltungs-, Lifestyle und früher Beautyvideos auf meinem Kanal mit euch zu teilen! Ich würde mich wahnsinnig freuen, wenn unsere Familiyyyy noch weiter wächst und ihr mir ein Abo dalasst! NEUE VIDEOS bekommt ihr von mir (fast lol) JEDEN SONNTAG um 12 Uhr hehe.“ Marvyn Macnificent: „Egal wie gerne ich mich schminke, und in so Klamotten reinsnatche, so Body Suits und keine Ahnung was alles, genauso gerne bin ich ungeschminkt, trage ich lockere Hosen, weite Klamotten und – das was ihr von mir seht online ist halt nur der Teil von mir, den ich mir ausgesucht habe zum repräsentieren, den ich auch verwende, um Geld zu verdienen… “ Cristiano Ronaldo: „Ich weiß, wer ich bin. Und ich weiß, was ich kann. Und ich weiß auch, am Ende des Tages werden sie sagen: OK, Bravo!“ Riccardo Simonetti: „Mein Weg hierhin zu kommen, war wirklich wirklich schwierig.[…] Ich bin ein schwuler Junge vom bayerischen Land und wollte immer auf die Bühne und hierhin zu kommen, hat mich so viel Kraft gekostet.“

[12] Auch die für die Teilnehmenden besonders relevanten Accounts finden sich in Kurzbeschreibungen im Anhang, damit die jeweiligen Erläuterungen der Kinder und Jugendlichen besser verortet werden können.

Kapitel 
4.2

Methodische Reflexionen

Ein Online-Setting mit Kindern und Jugendlichen als Erhebungsformat bringt einige Herausforderungen mit sich. In den Blick zu nehmen sind dabei vor allem die Gruppengröße und die Rahmenbedingungen der Teilnehmenden vor Ort, unter anderem bezüglich der technischen Gegebenheiten, der personellen Ressourcen und der Gruppenkonstellation. Es hat sich deutlich gezeigt, dass eine Gruppengröße von mehr als vier Personen für ein solches Erhebungsformat hinderlich sein kann und die Ergiebigkeit teilweise einschränkt. Durch den Redefluss, der durch die technischen Gegebenheiten etwas ,unnatürlicher‘ verläuft als in einem Präsenzformat, wird mehr Zeit zur Abstimmung benötigt, welche Person gerade spricht beziehungsweise sprechen möchte. Auch Rolf Kirchmair formuliert, dass in Online-Gruppendiskussionen „[s]pontane Interaktionen der Teilnehme[nden] untereinander und lebhafte Diskussionen wie bei der Offline-Gruppendiskussion […] schwer [möglich sind]“ (Kirchmair 2022, S. 149).

 

Sie müssen neben der inhaltlichen Moderation/Interviewführung und den üblichen Rahmenbedingungen (Interviewverlauf/Beteiligung der einzelnen Teilnehmenden, zeitlicher Rahmen) gegebenenfalls auch technische Erläuterungen übernehmen und angewendete Tools entsprechend im Blick behalten. Dabei eine Doppelmoderation einzusetzen ist entsprechend von Vorteil (vgl. Xyländer et al. 2020, S. 1001). Eventuell kann es sich für die Moderator*innen lohnen, einen separaten Kanal einzurichten, über den sie sich schnell und unkompliziert kurz und spontan austauschen können – insbesondere, wenn ad hoc Änderungen erfolgen müssen.

 

Wo ein reibungsloser Ablauf erfolgt, kann das Online-Setting wiederum gegebenenfalls neue Möglichkeiten des Einbezugs und der Teilnahmemöglichkeiten Einzelner schaffen; so wurde beispielsweise zu einzelnen Fragen spontan zu Hause recherchiert. Die Einbindung von Tools, in denen jede*r selbst aktiv werden konnte, wurde in der Regel viel genutzt und auch die Chatfunktion fand immer wieder Verwendung. Das heißt, im Rahmen von Online-Erhebungen ließe sich gegebenenfalls ausloten, inwiefern sich über das Miteinandersprechen hinaus Möglichkeiten verschiedener Anwendungen einbinden lassen, die sich in der qualitativen Forschung als ergiebig erweisen.

 

Neben Reflexionen zum technischen Setting ist ein entscheidender Aspekt der Erhebung, auf den es einzugehen gilt, eine geschlechtliche Perspektive. Das Dilemma der Reproduktion von Geschlechterdichotomien wird in der Frauen- und Geschlechterforschung sowie in der Medienforschung diskutiert, weil da, wo es um Geschlecht gehen und Geschlecht kritisch hinterfragt werden soll, gleichzeitig immer eine (Re)Produktion von Geschlecht erfolgt:

„Die Forschung steht nämlich vor der erkenntnistheoretischen Herausforderung, das Objekt der Erkenntnis – die binäre Geschlechterlogik und seine gesellschaftlichen Erscheinungsformen – empirisch zum Ausgangspunkt nehmen zu müssen und zugleich im Forschungsprozess genau diese Prämisse als symbolisches Konstrukt zur Disposition zu stellen.“ (Klaus/Lünenborg 2011, S. 100)

 

Daher stellen sich Fragen danach, wie über Geschlecht geforscht werden kann, ohne zu verkürzen und vorwegzunehmen (vgl. Ayaß/Bergmann 2011, S. 415). Gerade weil es nicht möglich ist, Geschlecht auf einer neutralen Folie zu thematisieren, wird es umso wichtiger, diese Ambivalenz für Forschungsprozesse fruchtbar zu machen und in Erhebungssettings hinterfragend und anerkennend darüber zu sprechen, welche Bedeutung Geschlecht in verschiedenen (Sozialisations)Kontexten hat und haben kann:

„Geschlecht wird diskursiv hergestellt und rekurriert zugleich auf gelebte Erfahrung von Männern und Frauen, von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Der Widerspruch muss nicht nur als quasi dialektisches Prinzip ausgehalten werden, sondern in ihm liegt die subversive Kraft der Gender Studies mitbegründet. Subjektunabhängige Erkenntnis ist damit unmöglich.“ (ebd., S. 104)

 

Darüber hinaus wird es etwa da, wo es Hinweise auf strukturelle Ausgrenzungen und soziale Ungleichheiten gibt, ebenso notwendig, eine Geschlechterdichotomie in den Blick zu nehmen. Auch die (vergeschlechtlichten) Rahmenbedingungen einer Erhebung können Auswirkungen auf den Interviewverlauf, einzelne Redeanteile sowie Inhalte haben, die Teilnehmende anbringen (oder nicht). So lässt sich für das vorliegende Forschungsvorhaben festhalten, dass die Teamerinnen sich alle als weiblich identifizieren und auch so gelesen werden können. Entsprechend hätte jede der fünf Forschungswerkstätten auch anders verlaufen können, wäre die geschlechtliche Besetzung eine andere gewesen. Auch muss auf einer intersektionalen Ebene betrachtet werden, dass das Team selbst wenig divers ist, teilweise aber auch ausgewählte Accounts für einzelne Methoden eine relativ homogene Auswahl an Menschen abbildet, etwa mit Blick auf ihre Hautfarbe und auf schlanke Körperformen. Im Sinne einer explorativen, erkundenden Studie war es trotzdem möglich, Einblicke in die unterschiedlichen geschlechtsbezogenen Erfahrungswelten von Kindern und Jugendlichen zu erhalten. Ein solches Vorhaben im Sinne einer intersektionaleren und diverseren Perspektive auszubauen, wäre vor diesem Hintergrund aber wünschenswert.

 

Für ein solches Thema ist es entscheidend, dass sich Mitglieder einer Gruppe untereinander austauschen, die Vertrauen zueinander haben und die offen miteinander sprechen können. Je nach Setting könnte dann gegebenenfalls auch über Methoden nachgedacht werden, die noch einmal stärker am persönlichen Leben und Erleben der einzelnen Personen ansetzen. Eine solche geschützte Atmosphäre herzustellen gelingt in einem Offline-Setting tendenziell besser, weil online etwa aufgrund technischer Möglichkeiten einzelne Momente jene geschützte Atmosphäre konterkarieren könnten – wenn beispielsweise bei ausgeschaltetem Mikro Kommentare erfolgen, die Einzelne nicht mitbekommen, oder wenn zwischen Teilnehmenden parallel privat gechattet wird, was in Online-Settings nie auszuschließen ist.

Kapitel 
4.3

Vorstellung der Gruppen

Insgesamt haben 25 Kinder und Jugendliche an den fünf Forschungswerkstätten teilgenommen. Um die Aussagen einzelner Teilnehmender entsprechend einordnen zu können, wird das Sample im Folgenden kurz skizziert. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund relevant, dass sich die Gruppen in ihren Konstellationen sehr voneinander unterschieden haben. Sowohl die Gruppengrößen als auch das Alter der Teilnehmenden sowie die technischen Voraussetzungen variierten stark. So wurden die Gruppen teilweise über die verbandliche Jugendarbeit, teilweise über schulische Kontexte und teilweise über private Peer-Netzwerke akquiriert. Die geschlechtliche Zuordnung folgt der Selbstverortung der Teilnehmenden.

 

Die erste Forschungswerkstatt konnte aufgrund der pandemischen Lage mit der Gruppe Surrealismus (S) nur mit den beiden Mädchen Frida K. (10) und Meret O. (12) im Rahmen eines Ferienseminars realisiert werden.[13] Die beiden saßen gemeinsam vor demselben Gerät; da die dortige Internetverbindung eher schlecht war, mussten alle Beteiligten ihre Äußerungen häufig wiederholen. Es kam immer wieder zu technischen Aussetzern, was den Gesprächsfluss beeinträchtigt hat. Durch die kleine Runde konnte dennoch ein tieferer Austausch stattfinden, wenngleich eine der beiden Teilnehmerinnen einen deutlich höheren Redeanteil hatte.

 

Zwei schulische Gruppen waren von ungünstigen technischen Bedingungen geprägt. Eine Forschungswerkstatt fand mit der Gruppe Futurismus (F) einer Medien-AG an einer Mittelschule im Rahmen des dortigen Nachmittagsangebots statt. Teilgenommen haben dort die fünf Mädchen Benedetta C. (10), Adriana F. (11) Regina C. (12), Alma F. (14) und Marisa L. (14) sowie der Junge Luigi R. (12). Insgesamt war dieser Termin durch schwierige Rahmenbedingungen geprägt und es herrschte eine unruhige Atmosphäre. Teilweise funktionierte die Technik der Teilnehmenden nicht gut, und weil alle im selben Raum saßen, sprangen Teilnehmende immer wieder auf, um sich gegenseitig zu helfen. Gleichzeitig waren nicht alle Teilnehmenden gleichermaßen am Interview beteiligt und es fanden gelegentlich Nebengespräche statt, die für die Interviewenden nicht verständlich waren. Manche schalteten ihre Kameras zeitweise aus, andere verließen vorübergehend den Raum. Ebenso unruhig war die Gruppe Expressionismus (E) mit den drei Mädchen Else L.-S. (15), Maria C.-F. (15) und Marianne v. W. (16) sowie mit den fünf Jungen Emil N. (11), Franz M. (13), Oskar K. (13), Max B. (14) und Paul K. (16), die ebenfalls im Rahmen eines Nachmittagsangebots an einer Gesamtschule stattfand. Die insgesamt acht Teilnehmenden saßen teilweise im selben Raum, teilweise – aufgrund fehlender technischer Ausstattung – in verschiedenen Büroräumen der Fachkräfte. Das Einrichten aller Geräte dauerte sehr lang, weswegen für den inhaltlichen Teil nur noch wenig Zeit zur Verfügung stand. Es herrschte eine unruhige Atmosphäre und die Gesprächsbeteiligung fiel sehr unterschiedlich aus, weswegen letztlich eher oberflächlich über einzelne Inhalte gesprochen werden konnte. Im Zusammenhang mit den technischen Schwierigkeiten steht bei dieser Gruppe insbesondere, dass es vorab nicht möglich war, einen zusätzlichen Termin für einen Technikcheck einzuplanen.

Zwei weitere Gruppen bildeten sich aus privaten Kontexten. So erfolgte eine Forschungswerkstatt – die Gruppe Impressionismus (I) mit den vier Mädchen Dora H. (12), Charlotte B.-C. (12), Lovis C. (13) und Julia W. (13), die befreundet sind. Jede saß bei sich zu Hause vor einem eigenen Gerät, um an dem Termin teilzunehmen. Die Gesprächsatmosphäre war ruhig und alle gingen sehr respektvoll miteinander um; wer etwas sagen wollte, meldete sich, um andere nicht zu unterbrechen. Ebenso entstand die Gruppe Pop Art (P) aus den vier befreundeten Jungen Robert R. (11), Peter P. (12), Andy W. (12) und Tom W. (14). Auch sie nahmen jeweils von zu Hause aus an dem Interview teil und saßen vor einem eigenen Endgerät. Die Teilnehmenden waren offen und interessiert und beteiligten sich angeregt an der Diskussion.

 

 


[13] Um die Anonymität der Teilnehmenden zu wahren, wurden nach dem Zufallsprinzip Namen bekannter Künstler*innen an die Teilnehmenden vergeben. Jede Gruppe wurde dabei jeweils nach Künstler*innen einer Stilrichtung benannt.

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