„Der will das nicht zeigen, ob er jetzt ganz weiblich oder ganz männlich ist“

GenderONline – Geschlechterbilder und Social Media zum Thema machen: Online-Forschungswerkstätten mit 10- bis 16-Jährigen

von Valerie Jochim und Christa Gebel
Kapitel 
3

Einblicke in entwicklungspsychologische Perspektiven auf Geschlecht

Nach dem ausgeführten geschlechtertheoretischen Fundament ist es von Interesse, einen kurzen Blick auf entwicklungspsychologische Perspektiven auf Geschlecht zu werfen. Ein Einblick in Handbuch-beziehungsweise Lehrbuchliteratur zeigt, dass aktuell insbesondere die sozial-kognitiv orientierte Geschlechtsschematheorie vertreten wird. Die folgenden Ausführungen sollen einen Überblick über den Fachdiskurs geben, ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben.

 

Martin Pinquart et al. beispielsweise halten grundlegend fest, welche Rolle Geschlecht für die Entwicklung spielt und was Kinder in ihrem eigenen Entwicklungsverlauf lernen müssen. So beschreiben die Autor*innen die Geschlechtszugehörigkeit als „wichtiges biologisches Merkmal, [das] auch Auswirkungen auf die sexuelle Orientierung, die Entwicklung von Interessen, Aktivitäten und die Gestaltung sozialer Beziehungen“ (Pinquart et al. 2019, S. 270) hat. Als Voraussetzung, das eigene Geschlecht zu erkennen und darauf aufbauend eine eigene Geschlechtsidentität zu entwickeln, halten Pinquart et al. eindeutig fest, dass Kinder Wissen zu einem männlichen und einem weiblichen Geschlecht erlangen müssen. Konkret sprechen sie von „der Erkenntnis, dass es zwei Geschlechter gibt“ (ebd., S. 271). Die Autor*innen nennen ein bis zwei Prozent der Kinder, die sich „nicht mit ihrem biologischen, sondern mit dem anderen Geschlecht identifizieren und auch für das andere Geschlecht typische Aktivitäten bevorzugen“ (ebd., S. 275). Weiterführend sprechen Pinquart et al. von verschiedenen Einflussfaktoren auf die eigene Geschlechtsidentität, wobei die Trennung zwischen binär angelegten biologischen Geschlechtern auf der einen und äußeren Einflüssen auf der anderen Seite aufrechterhalten wird. So werden beispielsweise Eltern benannt, die durch ihre Verhaltensweisen zu Geschlechtsunterschieden beitragen, weil sie etwa stereotypisierte Spielsachen für Mädchen und Jungen kaufen oder aber weil sie ihre Kinder – je nach Geschlecht – unterschiedlich behandeln und ihnen unterschiedliche Aktivitäten vorschlagen. Daneben verweisen die Autor*innen auf Peergroups, die für die Entwicklung der eigenen Geschlechtsidentität relevant sein können, etwa weil stereotypes geschlechtliches Verhalten in einzelnen Gruppen verstärkt wird, und auch Medieneinflüsse spielen eine Rolle, wenn etwa Mädchen Disney- Prinzessinnen nachahmen, die sie in einem Film gesehen haben (Pinquart et al. 2019, S. 285). Auch Laura Berk hält fest, dass insbesondere in der frühen Adoleszenz eine „Verstärkung der Geschlechtsidentität, der Identifizierung mit der eigenen Geschlechterrolle“ (Berk 2011, S. 564) einsetzt, wobei sie dafür biologische, soziale und kognitive Gründe nennt. Berk bezieht sich in ihren Ausführungen grundlegend auf die sogenannte Geschlechtstypisierung. Dieser Begriff, so Berk, „bezieht sich auf eine beliebige Assoziation von Objekten, Aktivitäten, Rollen oder Eigenschaften mit dem männlichen oder weiblichen Geschlecht[,] und zwar in einer Art und Weise, die kulturell geprägten Stereotypen entspricht“ (ebd., S. 365). Entsprechend lernen und übernehmen Kinder schon früh „geschlechtsbezogene Vorstellungen und Vorlieben“ (ebd., S. 366). Berk hält dabei, ähnlich wie Pinquart et al., verschiedene Gründe für eine Geschlechtstypisierung fest, wie etwa genetische Einflüsse und Umweltfaktoren (vgl. ebd., S. 366 ff.). Die sogenannte Geschlechtsschematheorie erläutert Berk im Anschluss als einen Erklärungsansatz von Geschlechtstypisierung: „Die [Geschlechtsschematheorie] erklärt, wie umweltbedingter Druck und die Kognitionen des Kindes zusammenwirken, um die Entwicklung seiner Sicht von Geschlechterrollen zu prägen […]“ (ebd., S. 372). Kinder übernehmen entsprechend schon früh Verhaltensweisen und Vorlieben anderer Kinder und entwickeln in diesem Zusammenhang Schemata – Geschlechtsschemata –, um in „maskuline und feminine Kategorien“ (ebd., S. 372) zu unterteilen und ihr Wissen entsprechend zu organisieren. Dieses Schema wird anschließend angelegt, um eigene Vorlieben zu (er)kennen oder aber aus eigenen Interessen und Vorlieben Rückschlüsse auf andere Kinder (des gleichen Geschlechts) zu ziehen. Auf welche Weise und wie ausgeprägt sich Kinder an diesem Schema schließlich orientieren, ist individuell unterschiedlich (vgl. ebd., S. 372 f.). Auch Robert Siegler et al. setzen sich unter anderem mit der Geschlechtsschematheorie auseinander, wobei sie zu Anfang die Trennung von sex – die „Unterscheidung zwischen genetischen Frauen (XX) und genetischen Männern (XY) sowie anderen genetischen Geschlechtszusammensetzungen (z. B. XO, XXY, XYY) (Siegler et al. 2021, S. 623) – und gender für die „[s]oziale Zuordnung oder Selbstkategorisierung“ (ebd., S. 623) festhalten. Damit werden die Autor*innen in ihren Ausführungen differenzierter als bisherige Darstellungen, weil sie direkt zu Beginn eine Vielzahl verschiedener Geschlechtsidentitäten benennen und auch den Unterschied zwischen cis- und transgender Personen erläutern.[9] Außerdem halten sie fest, dass es eine fachliche Auseinandersetzung darüber gibt, inwiefern Unterschiede zwischen den Geschlechtern überhaupt vorhanden sind und in welchem Ausmaß(vgl. Siegler et al. 2021). Mit Blick auf die Geschlechtsschematheorie halten auch diese Autor*innen fest, dass sich schon früh eine „Motivation zu geschlechtstypischem Verhalten“ (Siegler et al. 2021, S. 631) einstellt und sich bereits Kleinkinder Wissen über geschlechtliches Verhalten aneignen. Geschlechterschemata definieren Siegler et al. entsprechend als „[s]trukturelle mentale Repräsentationen (Begriffe, Überzeugungen, Erinnerungen) über Geschlechter einschließlich der Geschlechterstereotype“ (ebd., S. 708). Die Autor*innen halten aber auch fest, dass die angeeigneten Schemata „durch ausdrückliche Anleitung“ (ebd., S. 632) veränderbar sind und neue Informationen ein Schema abwandeln und modifizieren können. Wichtig dabei ist, dass es sich nicht um einmalige Informationen handelt, sondern sie wiederkehrenden Bestand haben. Daneben beleuchten die Autor*innen weitere entwicklungspsychologische Ansätze, wie etwa die sozial-kognitive Theorie und die Theorie der sozialen Identität, und neuere Modelle, wie die entwicklungspsychologische Intergruppentheorie und das geschlechtsspezifische Selbstsozialisationsmodell. Sie halten fest, dass es daneben ebenso wichtig ist, Ansätze zu fokussieren, wie beispielsweise das bioökologische Modell, die kulturelle Einflüsse stärker berücksichtigen: „Genauer gesagt ist es notwendig zu untersuchen, wie Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern in einer Gesellschaft die Entwicklung der Geschlechter beeinflussen“ (ebd., S. 638).

 

Für die Adoleszenz – die Altersgruppe, die in der vorliegende Studie vor allem befragt wurde – halten Siegler et al. für die entwicklungspsychologische Perspektive fest, dass diese Phase „sowohl eine Zeit der Intensivierung der Geschlechterrollen […] als auch eine Zeit der Flexibilisierung sein […] [kann]“ (ebd., S. 644). Die Autor*innen beschreiben die Altersphase als einen Zeitraum, in dem die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität besonders wichtig wird und sich entsprechend auch Haltungen bezüglich Geschlecht(errollen) herauskristallisieren. In der Folge kann es zu einer „Geschlechterrollenintensivierung“ (ebd., S. 645) kommen, wenn etwa Mädchen von Jungen bestimmte Verhaltensweisen erwarten. In diesem Kontext führen die Autor*innen den sogenannten ambivalenten Sexismus ein und erläutern, dass tradierte Beziehungsmuster einerseits auf einen ,feindseligen Sexismus‘ zurückgehen, bei dem Männer dominieren, und andererseits auf einen ,wohlwollenden Sexismus‘, nach dem Frauen in heterosexuellen Beziehungen von Männern geschützt werden sollen. In der Phase der Adoleszenz kann vor diesem Hintergrund eine Intensivierung der Geschlechterrollen, laut Autor*innen, auch zu einer Verstärkung geschlechtlicher Diskriminierungen führen. Wo Jugendliche Konventionen überschreiten und von tradierten Rollen absehen können, kann wiederum eine Geschlechterrollenflexibilität zu vielfältigeren Interessen und Einstellungen führen (vgl. ebd., S. 645 f.)

 

 


[9] „Cisgender bezieht sich auf Personen, die sich mit dem ihnen bei der Geburt zugeschriebenen Geschlecht identifizieren. […] Transgender-Personen identifizieren sich mit einem anderen Geschlecht als dem, das ihnen bei der Geburt zugeschrieben wurde“ (Siegler et al. 2021, S. 623).

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