„Der will das nicht zeigen, ob er jetzt ganz weiblich oder ganz männlich ist“

GenderONline – Geschlechterbilder und Social Media zum Thema machen: Online-Forschungswerkstätten mit 10- bis 16-Jährigen

von Valerie Jochim und Christa Gebel
Kapitel 
2

Theoretisches Fundament

Kapitel 
2.1

Hintergründe zu Historie und Geschlechtertheorie

Die Kategorie Geschlecht trägt in unserer Gesellschaft einen wesentlichen Teil zur Struktur und damit auch zur eigenen Identität(sentwicklung) bei. Was Geschlecht dabei eigentlich meint, wird in unterschiedlichen Kontexten unterschiedlich verhandelt. Seit Jahrzehnten befassen sich Fächer rund um die Geschlechterforschung oder auch Gender Studies mit den Fragen, welche Rolle Geschlecht in verschiedenen Zusammenhängen spielt und wie Geschlecht auf individueller wie struktureller Ebene verhandelt wird. Ausgangspunkte sind dabei in der Regel Formen sozialer Ungleichheit, Ausgrenzungs- und Diskriminierungsmechanismen – also die Ungleichbehandlung aufgrund des (zugeschriebenen) Geschlechts. Historisch betrachtet ging es dabei in erster Linie um die Unterdrückung der Frau in einem zweigeschlechtlichen, binären System. Zuhauf finden sich theoretische Abhandlungen über Zeiträume ab der Industrialisierung zur Entstehung eines Bildes der Frau und des Mannes, das insbesondere auch auf Interpretationen naturwissenschaftlicher Ergebnisse rekurrierte und zahlreiche Schlüsse mit weitreichenden Konsequenzen zog (vgl. Behm et al. 1999, S. 31). Wirkmächtig wurden naturalistische Zuschreibungen eines ,weiblichen und männlichen Charakters‘ und spezifischer Rollenbilder. Die Frau wurde, mit der Ausdifferenzierung von privatem und öffentlichem Raum, fortan dem häuslichen Bereich, der Mann der Erwerbsarbeit zugewiesen (vgl. Hausen 1976, S. 369 f.). Eng damit verbunden ist eine heterosexuelle Norm sowie das Bild der bürgerlichen Kleinfamilie, in der Mann und Frau [mit Kind(ern)] gemeinsam leben (vgl. Hausen 1976, S. 370 f.; Hoffmeister 2001, S. 74 ff.).

 

Anliegen befanden sich dabei in einem stetigen Wandel (vgl. Lenz 2014, S. 15): „Ging es anfänglich um ein Sichtbarmachen ungleicher gesellschaftlicher Strukturen, wurden später insbesondere auch Debatten um eine Naturalisierung und ein soziales Herstellen von Geschlecht geführt“ (Jochim 2020, S. 33). Eine Auseinandersetzung mit sex – einem biologischen Geschlecht – und gender – einem sozialen Geschlecht – trat damit in den Vordergrund, um zu beleuchten, inwiefern soziale Ungleichheiten auf biologischen Legitimationssträngen fußten (vgl. Bendl et al., S. 36). Diese eindeutige Trennung von sex und gender gilt spätestens seit den 1990er-Jahren durch die Arbeit von Judith Butler allerdings als überwunden (vgl. Butler 1990, 1991; Hirschauer 1994, S. 670; Villa 2003, S. 59). Andrea Maihofer erläutert, dass Butler mit ihren Abhandlungen eine Dekonstruktionsdebatte einläutete und eine Perspektive entwickelte, die davon ausgeht, dass sex selbst einer sozialen Konstruktion entspringt und „neutrale anatomische Merkmale innerhalb der heterosexuellen Geschlechterordnung eine spezifische, nämlich sexuelle bzw. geschlechtliche Bedeutung erhalten“ (Maihofer 1995, S. 41). [3] Dass es Butler dabei nicht um das Abstreiten eines Körpers an sich geht, sondern um die Tatsache, dass ein Zugang zu Körper nur durch Sprache und damit diskursiv gefunden werden kann, stellt Maihofer ebenfalls heraus (vgl. ebd., S. 51). Das heißt, in den Fokus rückt nun, Geschlecht als Herstellungsleistung zu begreifen; ,doing gender‘ beschreibt die (Re) Produktion einer „Geschlechterdifferenz durch das tagtägliche Tun“ (Gildemeister/Wetterer 1992, S. 233). Je nach Ausgangspunkt und Fragestellung verschiedener wissenschaftlicher Herangehensweisen ist eine Fokussierung auf ein sogenanntes biologisches beziehungsweise ein sogenanntes kulturelles Geschlecht nach wie vor von Relevanz – etwa, um systematische Ausgrenzungsmechanismen nachzuvollziehen –, wie auch Paula-Irene Villa in einem online erschienenen Interview darlegt (vgl. Roman Herzog Institut e. V. 2022). Dass es aber grundsätzlich immer auch um einen Blick auf machtvolle Diskurse und Strukturen gehen muss, die Wissen zu einem klar voneinander getrennten, zweigeschlechtlichen System und zu einer heterosexuellen Norm erst hervorbringen, wird ebenfalls deutlich. Rekurriert werden kann dabei auf Michel Foucault, der den Diskursbegriff maßgeblich prägte und darlegt, dass Machtstrukturen durch diskursiv hervorgebrachtes Wissen begründet werden (vgl. Jochim 2020, S. 37), Diskurse also ein ordnendes, kontrollierendes und selektierendes Wissen erschaffen, das Normen und Abweichungen erzeugt (vgl. Ganz 2008, S. 20 f.): „Ich setze voraus, daß in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen […]“ (Foucault 1991, S. 10). Um Machtgeflechte offenzulegen und die performative Herstellung von Geschlecht durch Diskurse nachzuzeichnen, dienten in der Folge dekonstruktivistische Ansätze (vgl. Bendl et al., S. 45; Butler 1991, S. 49; Hirschauer 2003, S. 468; Klann-Delius 2005, S. 72) dazu, den Blick auf Zusammenhänge von Denken, Sprache und der Generierung von Wissen (über Geschlecht zu richten (vgl. Jochim 2020, S. 36). Beim Konzept der Performanz sind „jene Sprechakte [gemeint], die das, was sie äußern, auch erzeugen, und zwar indem die Äußerung getätigt wird“ (Villa 2003, S. 158). Der Mensch und sein Körper sind entsprechend eingeflochten in ein Netz aus Diskursen und Machtverhältnissen und bringen in diesem Zuge Geschlecht immer wieder selbst hervor durch das eigene Sprechen und Tun. Dass bisherige Annahmen von Geschlecht auf diese Weise hinterfragt und aufgebrochen wurden, „gewinnt an Brisanz mit Blick auf eine Identitätenbildung, die maßgeblich mit einer Geschlechtszugehörigkeit verknüpft ist“ (Jochim 2020, S. 37). Und auf dieser Folie einer individuellen Geschlechtsidentität – die Judith Butler als „einen Effekt von Diskursen“ (Moser 2010, S. 51) begreift – hat sich unter anderem eine queere Perspektive entwickelt, die Fragen danach aufgreift, wie eigentlich ,Normen‘ und daneben existierendes ,Anderes‘ gefasst werden. Christine Riegel beschreibt unter Bezugnahme auf Edward Said und Gayatri C. Spivak, dass das sogenannte Othering als Analyseperspektive in Zusammenhang mit den Postcolonial Studies entwickelt wurde, um herausarbeiten zu können, wie ein ,Anderes‘ und ein ,Wir‘ konstituiert wurde und wird. Sie erläutert diesen Ansatz mit Blick auf Geschlecht folgendermaßen:

„In der wirkmächtigen Verschränkung und im Zusammenspiel von hegemonialen alltäglichen, fachlichen, wissenschaftlichen und politischen Diskursen wird mit Mitteln der Hervorhebung, Zuschreibung und Essentialisierung eine bestimmte Gruppe erst als solche, dann als Andere diskursiv hervorgebracht […]. Dies erfolgt im System der Heteronormativität mit Blick auf das homosexuelle oder queere Andere […].“ (Riegel 2017, S. 72)

 

Die aus einer sozialen Bewegung hervorgegangene Queer Theory befasst sich vor diesem Hintergrund mit Regulierungen und dem Entwicklungsprozess von Identitäten, ohne dabei aber jedwede Einordnungen zu vermeiden; Kategorisierungen können entsprechend weiterhin von Bedeutung sein (vgl. Butler 1989, S. 19; Hofmann 1997, S. 115). In diesem Zusammenhang geht es insbesondere auch um Sexualitäten und auf welchen Vorder- und Hinterbühnen diese stattfinden (können) (vgl. Roman Herzog Institut e. V. 2022).[4] Dass die geschlechtsbezogene Identitätsentwicklung also immer auch gesellschaftlich bedingt ist, wenngleich sie als „von Anfang an ,in den Körper eingeschrieben‘“ (Moser 2010, S. 23) verhandelt wird, hält Andrea Moser fest. Entsprechend darf nicht von einseitigen und naturalistischen Begründungslinien ausgegangen werden. Vielmehr muss ein historisches Gewordensein und ein gesellschaftliches Verhandeln von Geschlecht in den Fokus gerückt werden. So fasst Paula-Irene Villa zusammen:

„In der Forschung […] bezeichnet der Begriff gender eine von Menschen in historischen Prozessen gemachte, verobjektivierte soziale Differenz, die überdies mit anderen Differenzen (wie Klasse/Schicht, Sexualität, Alter usw.) verschränkt ist.[5] Nach Männern und Frauen bzw. männlich/weiblich zu unterscheiden beinhaltet also komplexe soziale Prozesse, in die selbstverständlich auch biologische, z.B. hormonelle oder genetische, Aspekte einfließen. Dabei geht die Forschung mit dem Begriff ‚gender‘ davon aus, dass die Geschlechterdifferenz nicht allein, nicht ursächlich, nicht monokausal und womöglich nicht mal entscheidend von einer an-und-für-sich-Seienden natürlichen Basis determiniert wird. Denn einerseits ist die Unterscheidung zwischen den Geschlechtern historisch, regional und je nach Kontext hoch variabel, andererseits bedarf jede biologische Tatsache der Interpretation, sofern sie gesellschaftlich relevant ist.“ (Villa 2016, S. 1)

 


[3] Alle Hervorhebungen in Zitaten im Original.
[4] In seinem Werk „Wir alle spielen Theater“ setzt sich Erving Goffman mit der sozialen Welt als Schauplatz mit Vorder- und Hinterbühnen auseinander, die aus Publikum, Darsteller*innen und Außenseiter*innen besteht (vgl. Goffman 2010). Stefan Laube überträgt diesen Ansatz auf die voranschreitende Mediatisierung, die einen Blick auf ein gesellschaftliches Bühnengeschehen nicht mehr nur für eine analoge Welt bedeutsam werden lässt: „Die Hinterbühnen von heute sind nicht mehr vornehmlich durch Türenklinken mit Vorderbühnen verbunden, sondern durch Tastaturen und Bildschirme“ (Laube 2016, S. 285).
[5] Die Überschneidung verschiedener Strukturkategorien wird als ,Intersektionalität‘ bezeichnet. Dieser Ansatz macht darauf aufmerksam, inwiefern mit Blick auf Diskriminierungsmechanismen nicht nur Bezüge zu einzelnen Kategorien hergestellt werden können. Es werden vor allem auch Strukturkategorien in ihrer Verschränkung betrachtet, die zu noch einmal verstärkten Unterdrückungsmechanismen führen können (vgl. Walgenbach 2012, S. 1). Eine intersektionale Perspektive, die verschiedene Strukturkategorien gleichermaßen berücksichtigt, würde den Rahmen der vorliegenden Studie sprengen. Auf weitere Grenzen des Vorgehens wird im Kapitel Methodische Reflexionen eingegangen.

Kapitel 
2.2

Geschlecht und Medien mit Blick auf Kinder und Jugendliche

Digitale Medien sind auf vielen Ebenen fundamentaler Teil unserer Gesellschaft, zum Beispiel bezüglich unserer Sozialisation und unserer Wissensgenerierung. Sozialen Medien muss in diesem Zusammenhang eine große Bedeutung zugeschrieben werden. Die Plattformen werden insbesondere von Kindern und Jugendlichen aus verschiedenen Gründen regelmäßig und intensiv genutzt, sei es etwa zur Kommunikation oder zur Information. So fassen Maya Götz und Elizabeth Prommer unter Bezug auf die ARD/ZDF-Onlinestudie von 2019 zusammen, dass 25 Prozent der deutschen Bevölkerung täglich Soziale Medien nutzt und die 14- bis 29-Jährigen „dabei mit 59 % täglich deutlich aktiver in Sozialen Medien [sind] als z. B. die 30- bis 49-Jährigen, von denen sich nur ein Drittel täglich hier bewegt“ (Götz/Prommer 2020, S. 8). Social-Media-Plattformen wird eine maßgebliche Orientierungsfunktion im Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen zugeordnet, weswegen es umso wichtiger wird nachzuvollziehen, wie sie sich auf den Plattformen bewegen, was sie daran interessiert und welche Schlüsse sie aus Rezipiertem ziehen – auch mit Blick auf Aspekte rund um Geschlecht und Sexualität. Orientierung kann dabei, wie Bernd Schorb in Bezug auf Erich Fromm festhält, „verstanden werden als Richtungsweiser im Prozess der Sozialisation. Die Orientierung legt fest, in welcher Weise sich der Mensch in Beziehung zur Welt und in dieser zu den Medien setzt“ (Schorb 2011, S. 90). Was aber sind nun Soziale Medien eigentlich genau? Jan-Hinrik Schmidt definiert Soziale Medien als „internetbasierte Plattformen und Werkzeuge“ (Schmidt 2013, S. 9), die es zum einen erleichtern, „Informationen aller Art im Internet zugänglich zu machen und zu bearbeiten“ (ebd., S. 11). Zum anderen kann durch Soziale Medien ein Austausch mit anderen Nutzer*innen erfolgen. Formen von Sozialen Medien können beispielsweise Netzwerkplattformen – auch ‚Soziale Netzwerke‘ genannt – sein, wie etwa Facebook. Daneben zählen aber beispielsweise auch Multimediaplattformen, wie etwa YouTube, Instagram und Snapchat, sowie Webblogs und Microblogs zu den Sozialen Medien (vgl. ebd. S. 11 ff.). Wulf Loh hält fest, dass Soziale Medien gleichsam digitale Öffentlichkeiten bilden, in denen sich „in besonderer Weise ‚beobachtende‘ (Sozialintegration, Bereitstellung von Orientierungswissen), ‚sozialisierende‘ (Sozialisation, Herausbildung von Identitäten) und ‚politische‘ (politische Selbstverständigung, Meinungsbildung) Öffentlichkeitsaspekte [vermischen] (Heesen 2008, S. 36)“ (Loh 2021, S. 546). Entsprechend vielfältig werden Betrachtungsweisen auf Social Media und Geschlecht in Bezug auf Kinder und Jugendliche.

 

Franziska Koschei legt in ihrem Arbeitspapier den aktuellen Forschungsstand dar, der aufzeigt, welche große Rolle vor allem für Menschen in der Adoleszenz Fragen zur eigenen geschlechtlichen Identifizierung spielen können und dass sich Jugendliche an Darstellungen einzelner Accounts orientieren und diese Einfluss auf ihr Selbstbild und beispielsweise auch auf die eigene Selbstdarstellung haben (vgl. Koschei 2021, S. 4 f.). Koschei fasst außerdem zusammen, dass der Großteil der „Social-Media-Angebote […] von geschlechterstereotypen, heteronormativen Darstellungen geprägt [ist]“ (ebd., S. 4). Mit diesem Wissen wird die Auseinandersetzung mit Geschlecht und Social Media in hohem Maße relevant. Wo Soziale Medien einen relevanten Bezugspunkt für Kinder und Jugendliche darstellen, sich mit ihrer Geschlechtsidentität und sexuellen Orientierung auseinanderzusetzen, spielt es eine Rolle, ob und, wenn ja, welche Möglichkeiten dort gegeben und welche Grenzen gesetzt sind. So formuliert etwa Clarissa Schär, dass mediale Selbstdarstellungen und entsprechend auch Geschlechtskonstruktionen „keineswegs als grenzenlos zu bezeichnen sind. Sie sind rückgebunden an Dynamiken der Selbstvermarktung, der Anerkennung und Aufmerksamkeit, die über Peergroup-Prozesse des Aus- und Verhandelns sowie Vergewisserns, ferner über das jeweilige Interface der Plattformen befördert werden“ (Schär 2013, S. 111). So fassen auch Christa Gebel et al. zusammen, dass in digitalen Medien stereotype Geschlechterbilder zuhauf (re)produziert werden:

„Weibliche Stereotype beinhalten in etlichen TV-Formaten (z. B. Castingshows, Reality-TV), Computerspielen, Musikvideos (z. B. Gangsta-Rap, Porno-Rap), YouTube-Genres sowie Werbung eine starke Fokussierung auf sexuelle Attraktivität bis hin zur Symbolisierung sexueller Verfügbarkeit (Döring 2015a). Das männliche Stereotyp wird im Fachdiskurs seltener thematisiert; als typisch gelten Mut (Coolness, Risikofreude) und Dominanz (Aggressionsbereitschaft, körperliche Überlegenheit) (Döring 2015b).“ (Gebel et al. 2020, S. 19)

Dass Soziale Medien daneben auch eine befreiende, vergemeinschaftende kreative und auch mit Geschlechterdarstellungen spielende Komponente haben (können), wird in der Literatur ebenfalls deutlich (vgl. Paceley et al. 2022). So beschreibt etwa Alice Marwick, inwiefern das Internet und weiterführend Soziale Medien es ermöglichen, dass sich Nutzer*innen auch mit Blick auf die eigene geschlechtliche Darstellung ausprobieren und in ihrem Online-Auftritt verändern können. Sie hält fest, dass Einzelne auf diese Weise in verschiedene Geschlechtsidentitäten schlüpfen, sich ausprobieren und somit Grenzen überwinden können (vgl. Marwick 2014).[6] Nicola Döring meint entsprechend, dass Soziale Medien Plattformen bieten, auf denen nicht stereotype Darstellungen präsenter sind, weil eine individuelle Pa

 

Dennoch existieren Geschlechter- und daran anknüpfend Schönheitsideale, die medial wirkmächtig werden. Schönheitsideale, an denen sich Menschen in der Adoleszenz orientieren und die insbesondere bei Mädchen und jungen Frauen häufig zu Unzufriedenheit mit dem eigenen Aussehen und dem eigenen Körper führen können (vgl. Fardouly et al. 2015; Murnen/Don 2012), wenngleich auch Jungen eng gefassten Schönheitsidealen unterliegen:

„Weil körperliche Attraktivität – trotz des Wandels von Männlichkeitsbildern – also nach wie vor als integraler Bestandteil von Weiblichkeit verstanden wird (ebd.; Löw 2012; Penz 2010; Davis 2008; Meuser 2000), sind Frauen stärker mit Ansprüchen einer ‚perfekten‘ Körperpräsentation konfrontiert und dementsprechend Schönheitsidealen stärker unterworfen. […] Während für männliche Attraktivität größere Spielräume bestehen, insofern für diese auch Charisma, Ausstrahlung oder der gesellschaftliche und ökonomische Status entscheidend sind (Hermann 2004; Pashos 2002), werden Frauen eher in Hinblick auf die Konformität mit bestehenden Schönheitsnormen bewertet (Görtler 2012: 38).“ (Schreiber 2019, S. 28)

 

So befasst sich etwa Sarah Dangendorf mit dem Phänomen der Schönheit in Bezug auf heranwachsende Mädchen, wobei sie festhält, dass sich (Körper)Schönheit einer Definition entzieht, da sie Wahrnehmungen und Kontexten unterliegt – häufig aber in Bezug auf eine idealisierte Weiblichkeit in einer heteronormativen Denkweise gedacht wird. Und vor diesem Hintergrund wird eine „hyperfeminin[e] und ,erwachsen[e]‘“ (Dangendorf 2017, S. 149) Inszenierung junger Mädchen deutlich. Eine Diskrepanz, die sich daraus ergibt, macht Dangendorf ebenfalls deutlich: So wird diskursiv und medial ein schönes Aussehen von Mädchen häufig forciert und in den Fokus gerückt, während gleichzeitig „die Sorge adoleszenter Mädchen um das eigene Aussehen nicht oder nur begrenzt akzeptiert [wird]“ (ebd., S. 151). Aktuelle Schönheitsideale unterliegen einem Leistungs- und Gesundheitsgedanken, der eng mit neoliberalen Perspektiven verknüpft werden kann. So stehen Selbstoptimierungsprozesse im Vordergrund, die Einzelne darauf verweisen, für die eigene Gesundheit, das eigene Aussehen und die eigene Fitness zuständig zu sein (vgl. Roth 2012).

 

Martin Sexl beschreibt, dass in Sozialen Medien eine Verselbstständigung in Gang kommt, durch die eine niemals endende Produktion von Idealen existiert. Gleichzeitig haben Nutzer*innen dabei wenig Wissen und Einfluss bezüglich ökonomischer Handlungen vonseiten der Anbieter*innen, etwa mit Blick auf Filterblasen[7] und Algorithmen (vgl. Sexl 2021, S. 108 ff.): Algorithmen, die bestimmte Inhalte stärker in den Vordergrund drängen, andere Inhalte dafür gar nicht erscheinen lassen. Algorithmen, die die jeweiligen Nutzungsweisen durchleuchten und spezifische Interessen bedienen. Mit Hinweisen, dass Algorithmen etwa sexistisch oder rassistisch diskriminierend sind, befasst sich neben anderen Ilona Horwath. Sie erklärt, dass Technologien nicht unabhängig von gesellschaftlichen Kontexten entwickelt werden können und „diskriminierungsrelevante Probleme [entsprechend] in die Gesellschaft und in technische Infrastrukturen eingelagert [sind]“ (vgl. Horwath 2022, S. 72). Auch Sara Juen legt dar, dass eine Neutralität von Algorithmen längst widerlegt wurde und sie – im Gegenteil – soziale Ungleichheiten sogar verstärken können (vgl. Juen 2021, S. 1 ff.). Die Sachverständigenkommission für den Dritten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung setzt sich ebenfalls damit auseinander, dass ein Gender Bias – also eine geschlechtsbezogene Verzerrung, die in die Datenverarbeitung einfließt – diskriminierende Folgen hat (vgl. Götz/Prommer 2021, S. 22 ff.). Sexl setzt die idealisierten Darstellungen in einen engen Bezug zu kapitalistischen Logiken, denen auf den Plattformen gefolgt wird und die Differenzen einkalkulieren: „Denn im Internetkapitalismus mit der Allgegenwart fotografischer Repräsentation von Körpern gibt es – und dies auch und gerade wegen der rechtlichen Gleichstellung der Frau – weiterhin leistungsfähige bzw. schwache Männer und attraktive bzw. hässliche Frauen“ (Sexl 2021, S. 118). Ein „Wechselverhältnis von sozialer und digitaler Ungleichheit“ (Iske/Kutscher 2020, S. 115) wird entsprechend besonders relevant, weswegen digitale Spaltungen in den Blick genommen werden müssen. Im Zusammenhang mit geschlechtlichen Ungleichheiten werden dabei unterschiedliche Nutzungsweisen des Internets relevant; diese Unterschiede werden auch als ‚second-level digital divide‘ bezeichnet (vgl. ebd., S. 118).[8] Stefan Iske und Nadia Kutscher führen Erklärungen zu diesem Phänomen aus und gehen auf das sogenannte Differenzierungsparadigma und das sogenannte Kohärenzparadigma ein. Während das Differenzierungsparadigma davon ausgeht, dass ungleiche Nutzungsweisen des Internets vornehmlich auf individuelle Interessen und selbst gewählte Vorlieben zurückgehen, stellt das Kohärenzparadigma strukturelle Ungleichheiten in den Vordergrund. Darüber hinaus erörtern die Autor*innen den ‚zero-level digital divide‘, der so heißt, weil er „sich einerseits auf [die] programmiertechnisch-algorithmische[n] Grundlagen sowie andererseits auf [den] grundlegenden, dem first-und second-level digital divide vor- bzw. nachgelagerten Charakter“ (ebd., S. 120) bezieht. Entsprechend sind damit Ungleichheiten gemeint, die auf Code und Algorithmen basieren, wie beispielsweise die Personalisierung von Internetangeboten, besagte Filterblasen, aber auch unterschiedliche Nutzungsweisen aufgrund von Datenvolumen und Netzabdeckung. Dan Verständig et al. halten fest, dass diese strukturellen Benachteiligungen auch mit Blick auf ihre intersektionalen Verschränkungen relevant werden, die Kategorie Geschlecht dabei aber eine Rolle spielt (vgl. Verständig et al. 2016, S. 51).

 

Medienpädagogisch wird es vor diesem Hintergrund relevant, sich mit Geschlecht, Sexualität und Social Media auseinanderzusetzen, um Methoden und Ansätze zu entwickeln, mit Kindern und Jugendlichen angemessen und hinreichend die verschiedenen Fragen und Aspekte zu bearbeiten, die sich in diesem Bereich auftun. Franziska Koschei fasst einige Herausforderungen und Potenziale zusammen, die dabei im medienpädagogischen Kontext zu beachten sind. So geht es darum, die (Re)Produktion von Geschlechterstereotypen in den Blick zu nehmen, um das eigene Bewusstsein zu schärfen und Vorurteile zu hinterfragen sowie um nachzuvollziehen, wie Experimentierräume für manche stärker eingeschränkt werden als für andere, wenn etwa nicht binäre, nicht heteronormative Inhalte Hass und Hetze erfahren. Selbstoptimierungsbestrebungen und die eigene Wahrnehmung des Körpers sollten außerdem in den Fokus rücken, um nachzuvollziehen, welche Zusammenhänge sich dabei zu einem „Konformitätsausdruck [ergeben], dem junge Menschen auf Social Media ausgesetzt sein können“ (Koschei 2021, S. 21). Daneben spielen sexualisierte Darstellungen und Gewalt eine entscheidende Rolle, wenn Kinder Gefahr laufen, „Opfer sexualisierter Gewalt oder von Cybergrooming, also der „Anbahnung von on- oder offline stattfindenden sexuellen Übergriffen“ (Brüggen et al. 2019, S. 85) zu werden“ (ebd.). Daneben stellt Koschei die Orientierungs- und Vernetzungsfunktion sowie Ausdrucksmöglichkeiten in Sozialen Medien heraus, wenn Kinder und Jugendlich beispielsweise Antworten auf offene Fragen finden, auf Gleichgesinnte zu identitätsbezogenen Aspekten treffen und der eigenen Geschlechtsidentifikation Ausdruck verleihen können (vgl. ebd., S. 21 ff.). Auch Brigitte Hipfl geht auf diese Funktionen ein, stellt dabei aber ebenfalls Risiken heraus, denen Einzelne ausgesetzt sein können:

„So bietet das Internet Frauen, Mädchen und marginalisierten Geschlechterpositionen (wie LGBTI*, Genderqueer, Nichtbinär) neue Handlungs- und Identitätsräume, die zum Austausch, für Vernetzung und Mobilisierung genutzt werden können. Gleichzeitig werden solche Praktiken der Verschiebung und Durchbrechung tradierter, hegemonialer Geschlechterpositionen im Internet mit anti-feministischen und anti-genderistischen Aussagen attackiert, missachtet und deren Akteur[*innen] bedroht.“ (Hipfl 2022, S. 718)

 


[6] Bezug nimmt Alice Marwick in diesem Kontext auf den sogenannten Cyborg- Feminismus, der sich in den 1970er-Jahren entwickelt hat und sich kritisch mit patriarchal geprägter Computertechnologie auseinandersetzt (vgl. 2014).

[7] Stefan Iske und Nadia Kutscher erläutern zur Diskussion rund um sogenannte Filterblasen, dass Suchmaschinen ehemalige Trefferlisten analysieren, um zukünftige Listen entsprechend anzupassen und zu personalisieren. Das heißt, obwohl verschiedene Menschen denselben Suchbegriff eingeben, erhalten sie jeweils unterschiedliche, nämlich personalisierte Trefferlisten (vgl. Iske/Kutscher 2020, S. 120 f.).

[8] Der ‚first-level digital divide‘ wiederum verweist grundlegend auf unterschiedliche Zugangsmöglichkeiten zum Internet (vgl. Iske/Kutscher 2020, S. 118).

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